Sie stürmen «Allah-u Akbar»-schreiend durch die Strassen, lynchen Soldaten und urinieren auf deren Leichname. Nachdem der Putschversuch schief ging, ist das Selbstbewusstsein Recep Tayyip Erdogans gestärkt – und das seiner Anhänger. Diese verteidigen seine Macht mit roher Gewalt und gehen radikal gegen Andersdenkende vor. Türkeiexperte Bernd Liedtke erklärt die Lage.
BLICK: Wie schätzen Sie die Situation in der Türkei momentan ein?
Bernd Liedtke: Bitterdunkel. Ich mache mir grosse Sorgen um das Land. Momentan herrscht in der Türkei ein offener Krieg zwischen dem Staat und den Kurden und zusätzlich noch ein verdeckter Bürgerkrieg zwischen einer islamisch-konservativen Gruppe und der Gruppe von Kemalisten, Aleviten und anderen Minderheiten. Erdogans Anhänger betreiben Lynchjustiz in einer Art und Weise, die uns Sorgen machen muss. Und zwar nicht nur gegen Soldaten, sondern auch gegen Leute die in der Öffentlichkeit Alkohol trinken.
Weshalb hat Erdogan trotz seiner umstrittenen Politik so viele Unterstützer im Volk?
Den Türken mangelt es an Selbstbewusstsein. Seit Jahrzehnten läuft das Land Europa nach und immer wieder wird es abgewiesen. Erdogan gab dem Volk den Nationalstolz zurück. Er bietet dem Westen die Stirn und zeigt sich als den starken Mann, den sich die Türken wünschen. Zusätzlich konnte er dem Land einen wirtschaftlichen Aufschwung bieten. Die Menschen verdanken ihm viel und stehen deshalb hinter ihm. Seine Anhänger nutzen nun die Gelegenheit, um auf all jene einzuprügeln, die sie schon immer gestört haben. Also alle Leute, die sich in ihren Augen zu westlich kleiden oder in der Öffentlichkeit Alkohol trinken.
Kann der türkische Präsident die Leute längerfristig für seine Sache begeistern?
Momentan sind die Anhänger noch teilweise unter Kontrolle – doch irgendwann werden sie aus dem Ruder laufen. Vor kurzem wurde angekündigt, dass die Waffenscheine neu geregelt werden. Da kann man sich mal ausmalen, was geschieht, wenn diese Lynch-Truppen durch die Strassen ziehen und auf alles schiessen, das ihnen nicht passt. Dann wird aus dem verdeckten, ein offener Bürgerkrieg. Und den kann nicht mal Erdogan leitend lenken. Er öffnete die Büchse der Pandora. Diesen Geist wird Erdogan sicher nicht mehr gänzlich einfangen können.
Der Mob tendiert offensichtlich zum Islamismus, der Präsident selber ist überzeugter Moslem – Inwiefern spielt die Religion im Konflikt eine Rolle?
Erdogan ist der erste türkische Staatspräsident der gläubig ist. Er reisst die Wurzeln aus, die Atatürk in den Staat gepflanzt hat und bringt die Religion wieder in den Vordergrund. Die Stärkung des Islams entspricht dem Volkswillen und verschafft ihm weitere Sympathiepunkte.
Nach dem missglückten Putsch hat Erdogan über 6000 Menschen festgenommen und Tausende Richter aus ihren Ämtern enthoben. Was ist sein längerfristiges Ziel?
Er will nun Rache üben. Es wird eine vollkommen neue Verfassung geben, womöglich mit der wiedereingeführten Todesstrafe. Ich bin überzeugt, er wird diese durchbringen – das Parlament wird jeglicher Verfassung zustimmen. Der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim ist eine Marionette, das Kabinett ist auf seiner Seite: Es hat keine Opposition mehr. Danach wird Erdogan die Leute in der Justiz und die Gouverneure austauschen und alle Stellen mit AKP-Leuten besetzen. Es wird ein Einparteienstaat entstehen mit einer absoluten Nulltoleranz gegenüber Andersdenkenden. Das wird eine andere Türkei entstehen, die wir im Westen nicht haben wollen.
Schreckliche Aussichten: Wie kann das verhindert werden?
Eine Option wäre natürlich die komplette Isolation der Türkei. Das ist aber ein komplett falscher Weg: Schlussendlich würde das Volk darunter leiden. Erdogan ist beratungsresistent und politisch törricht. Trotzdem bin ich ganz klar für mehr Dialog zwischen den Staaten. Man sollte ihm klar machen, dass die Zukunft der Türkei auf dem Spiel steht: Kooperiert er nicht, werden Import und Exporte einbrechen, die Tourismusbranche geht den Bach runter und militärisch steht er alleine da. Aber auch wenn die Gespräche erfolgreich sind: Erdogans Handeln reisst Wunden auf, die Jahrzehntelang bleiben werden und die Türkei mehr denn je polarisieren.