«Katastrophal», «desaströs»: So drastisch beschreibt US-Finanzministerin Janet Yellen das Szenario für die Wirtschaft, sollte der Kongress die Schuldenobergrenze nicht bis zum 18. Oktober anheben. Bidens Finanzministerin, ehemals Fed-Chefin, warnte den Kongress vergangene Woche, dass die USA bald ihre Rechnungen nicht mehr zahlen und in eine selbstverschuldete Rezession und Finanzkrise rutschen könnten. Harvard-Professor Felix Oberholzer-Gee erklärt, was dahinter steckt.
Blick: Sind die USA wirklich bald pleite?
Oberholzer-Gee: Nein. Wir leben seit Jahrzehnten über unseren Verhältnissen, und es geht der Wirtschaft gut.
Aber jetzt können die USA bald ihre Schulden nicht mehr bezahlen, warnte Yellen.
Die USA sind neben Dänemark das einzige Land, das einen Schuldendeckel hat. Was man verstehen muss: Es geht nicht um neue Ausgaben, sondern um durch den Kongress bereits beschlossene Ausgaben aus der Vergangenheit – das Budget ist längst abgesegnet, das kostet eben so viel und darum muss man den Schuldenberg erhöhen. Darüber gibt es keinen wirklichen politischen Streit, weil das ja beschlossene Ausgaben sind. Auch die Ratingagenturen haben gerade bestätigt, dass das Rating der USA nicht in Gefahr ist.
2011 hat Standard & Poor’s die USA aber von AAA auf AA+ heruntergestuft und damit den Finanzmarkt durchgeschüttelt.
Im aktuellen Niedrigzinsumfeld, wo sich jeder Staat zu minimalsten Kosten verschulden kann, ist das aber kein Thema. Wenn die Zinsen viel höher wären, müsste man eventuell mit den Steuern rauf, um die Schulden zu bedienen.
Warum dann dieses Schreckgespenst – und warum wollen die Republikaner nicht für die Erhöhung der Schuldenobergrenze stimmen?
Weil die grossen Schulden im Wahlkampf für die Midterms nächstes Jahr sicher ein Thema sind und die eine Partei der anderen die Schuld für die hohe Verschuldung geben kann. Das ist eine politische Show: Die Republikaner werden es so aussehen lassen, als hätten die Demokraten keine Finanzdisziplin – dabei steigen Schulden unter den Republikanern traditionell stärker und diesmal sind sie explodiert, weil Trump die Steuern gesenkt hat. Aber eigentlich ist die Erhöhung der Schuldenobergrenze einer der Momente, in dem Republikaner und Demokraten oft zusammenarbeiten konnten. Sogar unter Trump.
Der Minderheitsführer der Republikaner im Senat, Mitch McConnell, schlug den Demokraten am Mittwoch unter anderem vor, eine Notfall-Anhebung der Schuldengrenze auf einen bestimmten Betrag bis Dezember nicht zu blockieren. Damit könnten die Demokraten mehr Zeit gewinnen. Stand Donnerstag war allerdings noch keine Einigung erzielt.
Der Minderheitsführer der Republikaner im Senat, Mitch McConnell, schlug den Demokraten am Mittwoch unter anderem vor, eine Notfall-Anhebung der Schuldengrenze auf einen bestimmten Betrag bis Dezember nicht zu blockieren. Damit könnten die Demokraten mehr Zeit gewinnen. Stand Donnerstag war allerdings noch keine Einigung erzielt.
Schaffen es die Demokraten diesmal gegebenenfalls auch ohne die Republikaner?
Ja, im Rahmen einer sogenannten «Reconciliation». Das ist ein Notverfahren, mit dem man dringende Ausgaben im Rahmen des Budgets beschliessen kann. Das ist furchtbar kompliziert, aber der Vorteil der Konstruktion ist, dass es nur die einfache Mehrheit im Senat braucht – die haben die Demokraten knapp.
Über diesen Mechanismus, mit dem man die normalerweise notwendige Zweidrittelmehrheit im Senat umgehen kann, will Biden auch sein 3,5 Billionen Dollar schweres «Build Back Better»-Programm verabschieden.
Das Geld dafür und für das eine Billion schwere Infrastrukturpaket ist aber auch nicht direkt da. Das ist dann aber ein Problem, das in der nächsten Amtsperiode aufkommt, wenn die Republikaner eventuell wieder die Macht haben. Da müssen sie dann die Schuldengrenze nach oben drücken. Das ist aber kein grosses Problem, weil sich die USA – wie auch die Schweiz – in ihrer eigenen Währung verschulden kann. Schwellen- und Entwicklungsländer sind da in einer viel schwierigeren Situation, weil sie ihre Schulden in einer Fremdwährung bedienen müssen. Schwächt sich ihre eigene Währung dramatisch ab, sind dann die Schulden plötzlich unheimlich teuer.
Während sich beim Infrastrukturpaket beide Parteien einig sind, scheitert «Build Back Better» aber neben den Republikanern auch an der konservativen demokratischen Senatorin Kyrsten Sinema aus Arizona und ihrem Amtskollegen Joe Manchin aus West Virginia. Es geht um die hohe Summe – und um Inhalte.
Progressive versuchen jetzt so schnell wie nur möglich, neue Sozialprogramme zu etablieren. Falls der Senat nächstes Jahr zugunsten der Republikaner kippt, ist das jetzt vermutlich die letzte Chance für ein «Grossprojekt». Auch Obama (Gesundheitsversicherung) und Trump (Steuersenkung) konnten ja nur ein einziges grosses Gesetzeswerk innerhalb der ersten zwei Jahre ihrer Amtszeit verabschieden lassen.
Und die 3,5 Billionen sind nicht einfach zu viel Geld?
Diese Summe streckt sich über zehn Jahre. Pro Jahr ist das ungefähr ein Prozent des Bruttosozialprodukts der USA. Das ist grosszügig, aber nicht unmöglich. Es geht ausserdem um Investitionen in Humankapital: der allgemeine Zugang zur frühen Kinderbetreuung, eine Ausweitung medizinischer Versicherungen, Massnahmen gegen den Klimawandel. Ich kann mir gut vorstellen, dass man sich am Ende darauf einigt, die Programme nur für einen kürzeren Zeitraum zu finanzieren und so optisch das Preisschild drückt – wohl wissend, dass auch Republikaner der Bevölkerung sowas wie Kinderbetreuung eh nicht mehr wegnehmen können. Das wäre politisch superschwierig.
Das heisst, Infrastruktur und «Build Back Better» gehen irgendwie durch?
Ja. Und bis dahin erleben wir einfach noch drei Monate Drama. Politisches Theater, damit am Ende alle Seiten sagen können, alles versucht zu haben. Aber vor Ende des Jahres müssen und werden beide Pakete beschlossen sein.
Inwiefern nützt Bidens Wirtschaftsagenda auch der Schweiz?
Das Infrastrukturpaket in einigen technischen Bereichen, in denen die Schweiz Exporte hat. Der Reconciliation Bill beinhaltet vor allem Sozialausgaben. Aber für die Schweiz und alle anderen auf diesem Erdball ist es auch wichtig, dass es in der Klimafrage vorwärtsgeht und die USA das viel ernster nehmen als bisher.
Und fehlt Ihnen inhaltlich was?
Problematisch ist, dass in den USA Sozialprogramme oft über Familien und Kinder laufen. Es gibt ja auch viele Arme—mehr als zehn Millionen Menschen, die keine Kinder haben. Die fallen allzu oft durchs Raster. Niemand setzt sich wirklich für sie ein.
Der Zürcher Ökonom Felix Oberholzer-Gee (60) lehrt Unternehmensstrategie an der Universität Harvard und lebt seit 1996 in den USA. Im April erschien sein neues Buch «Better, Simpler Strategy: A Value-Based Guide to Exceptional Performance». Im Podcast «After Hours» (auf allen gängigen Plattformen verfügbar) diskutiert er ausserdem wöchentlich über das Aktuellste aus Wirtschaft und Kultur.
Der Zürcher Ökonom Felix Oberholzer-Gee (60) lehrt Unternehmensstrategie an der Universität Harvard und lebt seit 1996 in den USA. Im April erschien sein neues Buch «Better, Simpler Strategy: A Value-Based Guide to Exceptional Performance». Im Podcast «After Hours» (auf allen gängigen Plattformen verfügbar) diskutiert er ausserdem wöchentlich über das Aktuellste aus Wirtschaft und Kultur.