Nacht der langen Messer in Brüssel: Der Poker um die Nachfolge von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (64) geht in immer neue Runden. Ein neuerlicher Sondergipfel wurde vorerst unterbrochen – mangels Konsens. Auch am Montagmorgen, nach stundenlangen bilateralen Gesprächen durch die Nacht, zeichnete sich keine Lösung ab.
Es wird mit harten Bandagen um die Juncker-Nachfolge gekämpft. Zunächst zeichnete sich ab, dass der niederländische Sozialdemokrat und bisherige EU-Kommissionsvize Frans Timmermans (58) ein Kompromisskandidat sein könnte.
Der EU-Burgfrieden währte nicht lange. Osteuropäer und Christdemokraten begehrten auf. Der Niederländer ist ihnen zu liberal. Wer zuletzt lacht, lacht am besten? Denn konservative Kreise machen sich wieder für den deutschen Spitzenkandidaten Manfred Weber (46) stark.
Dessen Europäische Volkspartei (EVP) verlangt, dass sie als stärkste Kraft im neuen europäischen Parlament auch zum Zuge kommen soll. «Keine sehr einfachen Beratungen», sagte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (64) vor dem Gipfel, der nach 21 Uhr mit mehr als drei Stunden Verspätung begann.
Beichtstuhlverfahren zur Not
Für die EVP als EU-Wahlsiegerin wäre es ein «historischer Fehler» und «Demütigung», wenn die «wichtigste Position an unseren grössten Rivalen geht», schrieb Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban in einem Brief an den EVP-Vorsitzenden, während einzelne Staats- und Regierungschefs in Last-Minute-Vorgesprächen versuchten, ihre Differenzen auszuräumen.
Knapp eine Stunde vor Mitternacht unterbrachen die 28 EU-Regierungschefs ihre Beratungen. EU-Ratschef Donald Tusk (62) sucht nun mit Einzelgesprächen nach Kompromissen. Dann soll die grosse Runde wieder zusammentreten.
Tusk wendet das sogenannte «Beichtstuhlverfahren» der EU an, um ein drohendes Scheitern der Verhandlungen zu verhindern. Die vertraulichen Gespräche, daher «Beichtstuhl», sollen eine gemeinsame Schnittmenge für einen Kompromiss ausloten.
Weder Timmermans noch Weber?
Tusk machte sich vor dem Sondergipfel noch für Timmermans stark, den Favoriten von Westeuropas grossen EU-Staaten – mit Ausnahme Deutschlands, wohlgemerkt. Gerade Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (41) hält Weber wegen fehlender Regierungserfahrung für ungeeignet als Juncker-Nachfolger.
Es gibt viel Widerstand gegen Weber und viel Widerstand gegen Timmermans. Zur möglichen lachenden Dritten im Rennen, der dänischen Kompromisskandidatin und EU-Kommissarin Margrethe Vestager (51), schwieg der gestrige Gipfel.
Ein baldiger Durchbruch in Brüssel scheint unwahrscheinlich. Scheitert auch das Beichtstuhlverfahren, werden die Verhandlungen beendet. Laut der deutschen Zeitung «Bild» sei schon eine mögliche Gipfelvertagung auf den 15. Juli im Gespräch. Der EU-Kommissionspräsident wird am 16. Juli gewählt. (kes)