Grossbritannien vor dem Brexit? – Das sagt ein EU-Aussenpolitiker
«Ein EU-Deal für die Schweiz ist möglich»

Im Interview mit BLICK äussert sich der estnischen EU-Parlamentarier Tunne Kelam* zum Zustand der EU, zu den Auswirkungen eines Brexits und zu den Verhandlungen mit der Schweiz.
Publiziert: 23.06.2016 um 20:29 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2018 um 10:20 Uhr
Der estnische Politiker Tunne Kelan (79) im Gespräch.
Foto: NICO NEEFS

Herr Abgeordneter, was sagt die aggressive Brexit-Debatte in Grossbritannien über den Zustand der EU aus?

Sie ist eine Folge des Zustandes der Demokratie überhaupt. Schauen Sie sich Herrn Trump in den USA an, oder zahlriechen die populistischen Strömungen in Europa. Etwas ist ins Rutschen geraten im Verhältnis der Bürger und ihrer gewählten Politiker. Auch aufgrund der wirtschaftlichen Krise: Der Glaube an das immerwährende Wachstum ist vorbei. Viele Menschen hängen von staatlicher Unterstützung ab – die nicht zuletzt von Brüssel garantiert wird. Die Reaktion ist eine Mentalität störrischer Teenager, die von ihren Eltern unabhängig sein wollen, zugleich aber immer noch auf deren Hilfe angewiesen sind.

Sie kritisieren die Zuwanderung nach Europa scharf.

Sogar Angela Merkel hat eingeräumt: Multikulti ist gescheitert. Europa kann so viele Menschen, wie derzeit auf der Flucht sind, nicht aufnehmen. Doch die Krise geht tiefer: Wir sind  dabei, unsere Traditionen, unsere Kultur zu vergessen. Europa ist kein technologisches Experiment, kein Synonym für Konsum und Unterhaltung. Das füllt das Bedürfnis nach Sinn im Leben nicht aus. Das sieht man gerade bei jenen jungen Leuten, die sich just aus diesem Grund radikalen Gesinnungen zuwenden.

In der Brexit-Debatte war die Immigration das dominierende Thema. Die Schweiz hat schon 2014 entschieden, die Zuwanderung zu reduzieren. Muss die EU die Personenfreizügigkeit überdenken?

Ja, das müssen wir. Auch die Personenfreizügigkeit sollte Grenzen haben. Absolute Grenzenlosigkeit macht den Leuten Angst. Und die Aufnahmekapazität eines Staats ist nun mal beschränkt.

Die Schweiz will mit der EU einen Deal verhandeln, der auf der Schutzklausel basiert. Wenn die Zuwanderung eine bestimmte Schwelle überschreitet, wird sie eingeschränkt. Was halten Sie davon?

Ich verstehe sehr gut, dass die Schweiz eine solche Lösung anstrebt. Das ist ganz natürlich für ein kleines Land. Meine Heimat, Estland, ist ja flächenmässig etwa gleich gross wie die Schweiz.

Die Zuwanderung ist bei Ihnen aber nicht so hoch.

Ja. Wir haben leider nicht so viele Kosovaren, die unsere Nationalmannschaft beflügeln (lacht).

Generell zeigt Brüssel aber wenig Verständnis für den Zuwanderungs-Entscheid der Schweiz. Die Personenfreizügigkeit gilt hier immer noch als unumstössliche Säule der EU.

Trotzdem sage ich: Ein EU-Deal für die Schweiz ist möglich.

Weil wir kein Mitgliedsstaat sind?

Zum einen deshalb. Zum anderen weil sich die EU um das Stabilitätsgefühl der Bevölkerung kümmern muss. Die Vorstellung, dass grosse Massen in ein Land einwandern, ängstigt die Leute. Ich bin überzeugt, dass es gewisse Garantien braucht, um das Vertrauen in die EU wiederherzustellen. Unsere Bürger sind besorgt. Die Wirtschaftskrise, die Unsicherheit, die Überregulierung – all das hat das Vertrauen erodiert.

Das klingt nicht nach einem zuversichtlichen Ausblick für die EU.

Vielleicht muss ich das etwas präzisieren. Die Vorteile der EU sind trotz aller Unzulänglichkeiten beeindrucken. Und sie ist alternativlos. Es muss und es wird weitergehen.

Mit oder ohne Briten.

Ja. Die Briten bleiben ja unsere Verbündeten – Brexit hin oder her. Was schwieriger ist, als die Bewältigung eines Brexits, sind die langfristigen politischen Ergebnisse der Brexit-Debatte. Es könnte weitere Absetzbewegungen geben. Mit den Ursachen dieser Unzufriedenheit müssen wir uns auseinandersetzen. Vielleicht hilft uns die Schweiz dabei. Ich glaube jedenfalls, dass die Schweiz Grossbritannien sehr gut ersetzen könnte (lacht).

Der EU-Parlamentarier im Gespräch.
Foto: NICO NEEFS

*Tunne Kelam (79) sitzt seit 2004 für die estnische «Pro Patria Union» im EU-Parlament. Er ist Mitglied in der grössten Fraktion im Rat, der Europäischen Volkspartei. Er vertritt die Fraktion im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten, wo auch die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU zur Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initative -Thema sind.

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