Der Krimi geht weiter
Wie sieht die aktuelle Lage im Brexit aus?

Der britische Premierminister Boris Johnson scheiterte mit seinem zweiten Antrag auf Neuwahlen am Montag im Parlament. Somit könnten die Briten frühestens im November über ein neues Parlament abstimmen. Wie ist die aktuelle Brexit-Lage?
Publiziert: 10.09.2019 um 01:49 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2019 um 10:54 Uhr
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Am Dienstag hatte das Parlament seine letzte Sitzung vor der fünfwöchigen Zwangspause.
Foto: DUKAS

1. Vorerst gibt es keine Neuwahlen

Johnsons Antrag auf eine vorgezogene Neuwahl hatte die nötige Zweidrittelmehrheit im Unterhaus mit 293 von 650 Stimmen zuvor klar verfehlt. Es war bereits der zweite Anlauf. Es gibt damit keine Möglichkeit mehr für eine Neuwahl vor dem geplanten Brexit-Datum am 31. Oktober.

Die Abgeordneten stimmten zudem unter anderem für die Herausgabe von Regierungsdokumenten und interner Kommunikation zur Planung für einen No-Deal-Brexit und zu der von Johnson auferlegten Zwangspause. Für Johnson war es die sechste Niederlage im Unterhaus binnen sechs Tagen. Gewonnen hat er bislang keine.

Johnson ist trotzdem im Wahlkampfmodus

Beobachter sehen Johnson dennoch bereits im Wahlkampfmodus. Nur wenige Stunden nach einer dramatischen Nacht im Parlament leitete er am Dienstag eine Kabinettssitzung im Regierungssitz Downing Street. Dabei ging es einem Bericht zufolge um innenpolitische Themen, bei denen Johnson bereits viel Geld versprochen hat, etwa den nationalen Gesundheitsdienst (NHS).

Die Opposition ist grundsätzlich für eine Neuwahl, will aber sicherstellen, dass der Brexit-Verfechter Johnson nicht doch noch einen EU-Austritt des Landes ohne Abkommen durchsetzt. Spekulationen zufolge will sich Johnson bei einer Parlamentswahl als Verfechter des im Referendum zum Ausdruck gebrachten Volkswillens inszenieren, der gegen das proeuropäische Establishment kämpft.

Johnsons Chefberater Dominic Cummings empfahl wartenden Journalisten am Morgen vor seinem Haus in der britischen Hauptstadt: «Kommen Sie aus London heraus und sprechen Sie mit Menschen, die keine reichen Brexit-Gegner sind.» Der ehemalige Leiter der Brexit-Kampagne «Vote Leave» aus dem Referendumswahlkampf 2016 gilt als Kopf hinter der kompromisslosen Brexit-Strategie des Regierungschefs.

Wann würde eine Neuwahl stattfinden?

Eine vorgezogene Neuwahl kann frühestens im November stattfinden, weil während der fünfwöchigen Zwangspause kein entsprechender Beschluss des Parlaments gefasst werden kann. Zwischen Auflösung des Unterhauses und dem Wahltermin müssen zudem 25 Werktage liegen.

Die Abgeordneten sollen erst am 14. Oktober wieder zusammentreten. Gegen die Zwangspause sind noch mehrere Gerichtsverfahren hängig. Das oberste britische Gericht, der Supreme Court, soll sich am 17. September mit der Causa befassen. Labour-Chef Jeremy Corbyn warf Johnson vor, er schliesse das Parlament, um keine Rechenschaft mehr ablegen zu müssen.

2. Tumult im Parlament

Bei der Abschlusszeremonie des Parlaments war es am frühen Dienstagmorgen zu tumultartigen Szenen gekommen: Abgeordnete der Opposition hielten Protestnoten mit der Aufschrift «zum Schweigen gebracht» hoch und skandierten «Schande über euch» in Richtung der Regierungsfraktion. Parlamentspräsident John Bercow sprach von einem «Akt exekutiver Ermächtigung».

3. Kult-Speaker Bercow tritt zurück

Bercow - der Präsident des Unterhauses, der in Grossbritannien Sprecher genannt wird - hatte angekündigt, am 31. Oktober von seinem Amt zurückzutreten. Viele Abgeordnete würdigten ihn mit langem Applaus, in der Regierungsfraktion war der Zuspruch eher verhalten.

Bercow hatte im Brexit-Machtkampf zwischen der Regierung und dem Parlament eine herausragende Rolle gespielt. Erst vergangene Woche ermöglichte er der Opposition und Rebellen aus der Tory-Fraktion, ein Gesetzgebungsverfahren gegen den Willen der Regierung einzuleiten.

Kult-Sprecher John Bercow aus Parlament verbannt
2:20
Sprecher des Unterhauses:John Bercow kündigt seinen Rücktritt an

4. No-Deal-Gesetz für Brexit wird verabschiedet

Das am Montag in Kraft getretene Gesetz zwingt den Premierminister, eine Brexit-Verschiebung zu beantragen, sollte nicht rechtzeitig vor dem geplanten Austrittsdatum am 31. Oktober ein Abkommen mit der EU unter Dach und Fach sein. Es verpflichtet den Premier, eine Brexit-Verschiebung um drei Monate zu beantragen, falls es bis zum 19. Oktober kein Deal mit der EU geben sollte. Johnson lehnt das jedoch strikt ab. Wie Johnson das Gesetz gegen den No-Deal-Brexit umgehen will, ist unklar.

Er bekräftigte zwar seinen Willen, mit einem Abkommen aus der EU auszutreten, doch wartet Brüssel bislang vergebens auf entsprechende Vorschläge aus London. Spekulationen zufolge könnte die Regierung auch versuchen, ein Schlupfloch in dem Gesetz zu finden. Denkbar wäre auch ein Rücktritt Johnsons.

5. Regierung muss Brexit-Dokumente veröffentlichen

Sträuben dürfte sich die Regierung auch gegen die Forderung des Unterhauses nach Herausgabe von Dokumenten. Die Abgeordneten stimmten für die Herausgabe von Regierungsdokumenten und interner Kommunikation zur Planung für einen No-Deal-Brexit und zu der von Johnson auferlegten Zwangspause. Die Abgeordneten wollen die Kommunikation von Regierungsmitarbeitern vor der Entscheidung sehen, bis hin zu privaten Emails und Nachrichten aus Kurznachrichtendiensten.

Auch die Planungen für einen Brexit ohne Abkommen in der sogenannten «Operation Yellowhammer» sollen nach dem Willen der Parlamentarier bis zum 11. September offengelegt werden. Der Beschluss kam in letzter Minute, denn noch am Montagabend soll die Zwangspause beginnen.

Einzelne an die Presse durchgesickerte Dokumente aus der No-Deal-Planung hatten Schlagzeilen gemacht, weil sie nahelegen, dass die Regierung die befürchteten Konsequenzen herunterspielt.

Berichten zufolge will die Regierung der Forderung nicht nachkommen. Es war aber zunächst unklar, welche Zwangsmittel die Abgeordneten haben, um ihre Forderung durchzusetzen.

6. Keine neuen Vorschläge für Backstop-Frage

Bei einem Besuch in Irland sagte Johnson am Montag ausdrücklich, dass er einen geregelten Brexit seines Landes zum 31. Oktober wolle. «Ich will einen Deal erreichen», so Johnson bei dem Treffen mit seinem irischen Amtskollegen Leo Varadkar in Dublin. Dies solle ohne die Einrichtung einer festen Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordirland möglich sein. Wie das umgesetzt werden soll, verriet Johnson nicht.

Brüssel und Dublin fordern eine Garantie dafür, dass Kontrollposten an der Grenze zu Nordirland nach dem Brexit vermieden werden. Denn das könnte den alten Konflikt zwischen katholischen Befürwortern einer Vereinigung Irlands und protestantischen Loyalisten wieder schüren. Bis eine andere Lösung gefunden wird, sollen für Nordirland weiter einige EU-Regeln gelten und ganz Grossbritannien in der EU-Zollunion bleiben.

Diese «Backstop» genannte Lösung lehnt Johnson jedoch strikt ab. Johnson fordert von der EU, dass der sogenannte Backstop aus dem EU-Austrittsabkommen gestrichen wird. Er sieht in der Klausel ein «Instrument der Einkerkerung» Grossbritanniens in Zollunion und Binnenmarkt. Varadkar betonte jedoch am Montag: «Für uns gibt es keinen Deal ohne Backstop.»

Varadkar warnte, ein EU-Austritt Grossbritanniens ohne Abkommen sei alles andere als ein «klarer Bruch». Was auch immer passiere - beide Seiten müssten schnell wieder an den Verhandlungstisch zurückkehren.

Labile Situation in Nordirland

Wie wackelig der Frieden in Nordirland ist, wurde am Montagabend deutlich, als es in der Grenzstadt Londonderry zu heftigen Ausschreitungen kam. Dutzende Polizisten seien von einer Menschenmenge mit etwa 40 Molotow-Cocktails und anderen Wurfgeschossen angegriffen worden, teilte die Polizei mit.

Zu der Strassenschlacht kam es, als etwa 80 Polizisten ein Wohnviertel nach Baumaterial für Bomben durchsuchen wollten. Mindestens zwei Jugendliche zogen sich Brandverletzungen zu, die Polizisten erlitten keinen Schaden.

7. EU berät über Brexit

Mitglieder des Europaparlaments wollen sich am Mittwoch auf den Entwurf einer Brexit-Resolution verständigen und diese nächste Woche verabschieden. Am Donnerstag informiert EU-Chefunterhändler Michel Barnier die Fraktionsvorsitzenden des Parlaments über den Stand der Gespräche mit London.

Wie geht es jetzt mit dem Brexit weiter?

  • 11. September:
    Die Botschafter der EU-Staaten befassen sich mit der Entwicklung im Brexit-Streit.
     
  • 12. September:
    Spätestens an diesem Tag soll das britische Parlament in die Zwangspause gehen.
     
  • 16. September:
    Das EU-Parlament kehrt aus seiner Sommerpause zurück.
     
  • 14. Oktober:
    Das britische Parlament wird durch Verlesung des Regierungsprogramms durch die Queen wiedereröffnet.
     
  • 15. Oktober:
    Gewünschter Wahltermin der Johnson-Regierung für eine Parlamentswahl in Grossbritannien.

    In Brüssel wollen die verbliebenen 27 bleibenden EU-Mitgliedsstaaten auf Ministerebene über den Brexit beraten.
     
  • 17. und 18. Oktober:
    EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs.
     
  • 19. Oktober:
    Frist im Gesetz gegen No-Deal-Brexit läuft ab. Sollte bis dahin kein Austrittsabkommen ratifiziert sein, muss der britische Premierminister eine Verschiebung des Brexits beantragen.
     
  • 31. Oktober:
    Voraussichtlich letzter Tag der britischen EU-Mitgliedschaft.

(SDA)

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