Griechenland verzeichnet Anstieg
Hat Erdogan die Flüchtlings-Schleusen geöffnet?

Die Zahl der Migranten, die auf den griechischen Inseln ankommen, ist in den letzten Tagen stark gestiegen. Macht die Türkei Ernst mit der Drohung, Flüchtlinge nicht mehr zurückzuhalten?
Publiziert: 21.03.2017 um 21:13 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 09:07 Uhr
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Flüchtlinge auf einem Schiff nach einer Rettungsaktion bei der griechischen Insel Chios.
Foto: Reuters

Im Streit mit europäischen Regierungen um den Abstimmungskampf zur Verfassungsreform in der Türkei hat der türkische Innenminister Süleyman Soylu letzte Woche gedroht, Tausende Flüchtlinge in die EU zu schicken. «Wenn ihr wollt, schicken wir euch die 15’000 Flüchtlinge, die wir jeden Monat zurückhalten», sagte Soylu laut der amtlichen Nachrichtenagentur Anadolu.

Hat die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan diese Drohung bereits wahr gemacht? Laut Angaben der griechischen Behörden von gestern sind in fünf Tagen 566 Asylsuchende über die Ägäis auf die griechischen Inseln Lesbos, Chios und Samos gelangt. Das sind drei Mal mehr als in den ersten Märzwochen, als pro Tag im Schnitt 35 illegale Grenzübertritte gezählt wurden.

Ist nur das Wetter schuld?

In Griechenland wird die Anzahl der ankommenden Flüchtlinge aufmerksam verfolgt. Der Anstieg der letzten Tage könnte durchaus mit dem guten Wetter in Zusammenhang stehen. Doch angesichts der Drohungen der Türkei ist die Nervosität gross, dass Erdogan die Schleusen geöffnet haben könnte.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan stellt den Flüchtlingspakt mit der EU in Frage.
Foto: AP

Auch der türkische Aussenminister Mevlüt Cavusoglu benutzte die Flüchtlinge bereits als Druckmittel gegen Europa: Er drohte, die Rücknahmevereinbarung mit der EU aufzukündigen. Ankara und Brüssel hatten vor einem Jahr einen Flüchtlingspakt geschlossen, der vorsieht, dass die Menschen, die auf die griechischen Inseln übersetzen, im Falle eines abgelehnten Asylantrags in die Türkei zurückgeschickt werden können. (noo)

Darüber stimmen die Türken heute ab

Die Regierungspartei AKP um Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan (63) bringt ihre umstrittene Verfassungsreform vor das Volk. Konkret: Das Parlamentssystem der Türkei soll in ein Präsidialregime umgewandelt werden. Kommt die Vorlage durch, wird Erdogan nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef sein. Erdogan könnte Minister nach eigener Lust und Laune ernennen, das Parlament auflösen und bei der Besetzung der Gerichte mitreden. Gleiches gilt auch für Rektoren an den Universitäten.

Kommt das Referendum durch, könnte die Regierung auch nicht mehr mittels eines Misstrauensvotums abgesetzt werden. Gesetzesvorhaben des Parlaments liessen sich mit einem simplen Veto blockieren. Nach Angaben der AKP sollen die Bestimmungen das Land stabilisieren – die Opposition fürchtet hingegen eine Diktatur.

Die Regierungspartei AKP um Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan (63) bringt ihre umstrittene Verfassungsreform vor das Volk. Konkret: Das Parlamentssystem der Türkei soll in ein Präsidialregime umgewandelt werden. Kommt die Vorlage durch, wird Erdogan nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef sein. Erdogan könnte Minister nach eigener Lust und Laune ernennen, das Parlament auflösen und bei der Besetzung der Gerichte mitreden. Gleiches gilt auch für Rektoren an den Universitäten.

Kommt das Referendum durch, könnte die Regierung auch nicht mehr mittels eines Misstrauensvotums abgesetzt werden. Gesetzesvorhaben des Parlaments liessen sich mit einem simplen Veto blockieren. Nach Angaben der AKP sollen die Bestimmungen das Land stabilisieren – die Opposition fürchtet hingegen eine Diktatur.

Das würde sich bei einer Annahme des Referendums ändern
  1. Erdogan wird Staats- und Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten und der Ministerrat werden als eigenständige Organe abgeschafft.
     
  2. Der Präsident darf neu einer Partei angehören und dieser vorsitzen.
     
  3. Der Präsident darf seine Stellvertreter selbst wählen und ernennt Minister ohne Parlamentsanhörung. Auch bestimmt der Präsident über die Universitätsrektoren mit.
     
  4. Gegen Stellvertreter und Minister sind nur Untersuchungen zugelassen, sie können nicht per Misstrauensvotum abgesetzt werden.
     
  5. Der Präsident kann (ähnlich wie in den USA) direkte Präsidialverordnungen (Dekrete) erlassen. Das Parlament muss den Dekreten nicht mehr zustimmen. Per Dekret kann der Präsident Ministerien abschaffen, errichten oder umorganisieren.
     
  6. Die Wahlen für Parlament und Präsident werden neu alle fünf Jahre am gleichen Tag erfolgen. Das erste Mal am 3. November 2019. Die Zahl der Parlamentssitze wird von 550 auf 600 erhöht. Parlamentarische Anfragen gibts es nur noch schriftlich an Vizepräsidenten und Minister. Diese müssen innert 15 Tagen antworten.
     
  7. Der Präsident kann das Parlament zu jeder Zeit auflösen, dann müssen gleichzeitig Neuwahlen für Parlament und Präsident stattfinden. Wenn das Parlament den Präsidenten absetzen will, hat dies auch Neuwahlen im Parlament zur Folge.
     
  8. Die Amtsperioden des Präsidenten bleiben auf zwei beschränkt. Die Zählung der Amtszeiten würde unter dem neuen System aber neu beginnen. Das heisst, Erdogan könnte theoretisch bis 2029 weiterregieren, wenn er gewählt wird.
     
  9. Der Präsident kann weiterhin Gesetzesvorhaben des Parlaments mit einem Veto blockieren. Das Veto kann vom Parlament mit einer Mehrheit der Gesamtzahl der Mitglieder überstimmt werden.
     
  10. Der Präsident kann neu im Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte vier der 13 Mitglieder bestimmen.
     
  11. Das passive Wahlrecht wird von 25 auf 18 Jahre herabgesetzt. (Das passive Wahlrecht ist das Recht, sich bei einer Wahl als Kandidat aufstellen zu lassen) Menschen mit Bezug zum Militär dürfen nicht mehr für die Wahl aufgestellt werden.
     
  12. Militärgerichte werden abgeschafft, ausser um Delikte von Soldaten zu Kriegszeiten zu untersuchen.

Unterschiede zu den USA

Im Gegensatz zum US-System fehlen sogenannte «Checks and Balances», also Organe, die als Gegengewicht zum Präsidenten fungieren. Ausserdem legt in den USA der Kongress das Staatsbudget fest, in der Türkei würde nach der Reform der Präsident darüber verfügen. In den USA haben zudem die Einzelstaaten noch mehr zu sagen. Der türkische Präsident hätte bei einem Ja zur Reform weitreichendere Freiheiten und mehr Macht im eigenen Land als der US-Präsident.

  1. Erdogan wird Staats- und Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten und der Ministerrat werden als eigenständige Organe abgeschafft.
     
  2. Der Präsident darf neu einer Partei angehören und dieser vorsitzen.
     
  3. Der Präsident darf seine Stellvertreter selbst wählen und ernennt Minister ohne Parlamentsanhörung. Auch bestimmt der Präsident über die Universitätsrektoren mit.
     
  4. Gegen Stellvertreter und Minister sind nur Untersuchungen zugelassen, sie können nicht per Misstrauensvotum abgesetzt werden.
     
  5. Der Präsident kann (ähnlich wie in den USA) direkte Präsidialverordnungen (Dekrete) erlassen. Das Parlament muss den Dekreten nicht mehr zustimmen. Per Dekret kann der Präsident Ministerien abschaffen, errichten oder umorganisieren.
     
  6. Die Wahlen für Parlament und Präsident werden neu alle fünf Jahre am gleichen Tag erfolgen. Das erste Mal am 3. November 2019. Die Zahl der Parlamentssitze wird von 550 auf 600 erhöht. Parlamentarische Anfragen gibts es nur noch schriftlich an Vizepräsidenten und Minister. Diese müssen innert 15 Tagen antworten.
     
  7. Der Präsident kann das Parlament zu jeder Zeit auflösen, dann müssen gleichzeitig Neuwahlen für Parlament und Präsident stattfinden. Wenn das Parlament den Präsidenten absetzen will, hat dies auch Neuwahlen im Parlament zur Folge.
     
  8. Die Amtsperioden des Präsidenten bleiben auf zwei beschränkt. Die Zählung der Amtszeiten würde unter dem neuen System aber neu beginnen. Das heisst, Erdogan könnte theoretisch bis 2029 weiterregieren, wenn er gewählt wird.
     
  9. Der Präsident kann weiterhin Gesetzesvorhaben des Parlaments mit einem Veto blockieren. Das Veto kann vom Parlament mit einer Mehrheit der Gesamtzahl der Mitglieder überstimmt werden.
     
  10. Der Präsident kann neu im Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte vier der 13 Mitglieder bestimmen.
     
  11. Das passive Wahlrecht wird von 25 auf 18 Jahre herabgesetzt. (Das passive Wahlrecht ist das Recht, sich bei einer Wahl als Kandidat aufstellen zu lassen) Menschen mit Bezug zum Militär dürfen nicht mehr für die Wahl aufgestellt werden.
     
  12. Militärgerichte werden abgeschafft, ausser um Delikte von Soldaten zu Kriegszeiten zu untersuchen.

Unterschiede zu den USA

Im Gegensatz zum US-System fehlen sogenannte «Checks and Balances», also Organe, die als Gegengewicht zum Präsidenten fungieren. Ausserdem legt in den USA der Kongress das Staatsbudget fest, in der Türkei würde nach der Reform der Präsident darüber verfügen. In den USA haben zudem die Einzelstaaten noch mehr zu sagen. Der türkische Präsident hätte bei einem Ja zur Reform weitreichendere Freiheiten und mehr Macht im eigenen Land als der US-Präsident.

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