Giftgas-Angriff in Syrien
War es wirklich Assad?

Die Stadt Chan Scheichun erlebt einen der schwersten Chemiewaffenangriffe in Syrien seit Jahren. Doch wer steckt hinter der perfiden Attacke? War es wirklich Machthaber Assad? Und wieso ausgerechnet jetzt? BLICK schafft einen Überblick.
Publiziert: 05.04.2017 um 20:39 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 01:11 Uhr
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Unter den Toten sind Dutzende Kinder.
Foto: Uncredited

War es tatsächlich ein Giftgas-Angriff?

Stecknadelgrosse Pupillen, Atemnot, Ohnmachtsanfälle, Übelkeit und Schaum vor dem Mund. Die Symptome der Opfer von Chan Scheichun sind typisch für den Einsatz von Giftgas. Hinzu kommen Muskelzuckungen und Krämpfe.

Die Bilder erinnern an Aufnahmen aus dem August 2013, als bei einem Angriff mit dem Kampfstoff Sarin in Vororten von Damaskus Hunderte Menschen ums Leben kamen. Ärzte in Chan Scheichun gehen deshalb davon aus, dass nun wieder Sarin zum Einsatz kam. 

Wer steckt hinter der Attacke?

Oppositionsaktivisten in Chan Scheichun machen die syrische Luftwaffe für den Angriff verantwortlich. Sie verweisen darauf, dass Assads Armee in den vergangenen Wochen mehrfach die Stadt und umliegende Orte aus der Luft bombardiert hat. Der Angriff passe in die übliche Vorgehensweise der syrischen Streitkräfte.

Ein Kind erhält nach dem mutmasslichen Giftgasangriff auf die syrische Stadt Chan Scheichun in der nordwestlichen Provinz Idlib erste Hilfe. Beim Anschlag starben Dutzende Menschen. Unter den Toten waren mehrere Kinder.
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Russland und Westen im Streit:Wer verantwortet den Giftgas-Angriff?

Die EU-Aussenbeauftragte Federica Mogherini sieht die «vorrangige Verantwortung» bei Bashar al-Assad. Auch die USA machen den syrischen Machthaber direkt für den Angriff verantwortlich. Die Vereinten Nationen hatten der syrischen Regierung vorgeworfen, in den vergangenen Monaten Chlorgas eingesetzt zu haben.

Kalkül oder Willkür? Syriens Machthaber Bashar al-Assad (51).
Foto: AFP/JOSEPH EID

Russland präsentierte dagegen eine ganz eigene Erklärung: In der Version des russischen Verteidigungsministeriums wurden bei dem Luftangriff der syrischen Armee eine Chemiefabrik und ein Munitionslager der Rebellen getroffen. In der Fabrik seien chemische Kampfstoffe produziert worden, die von Kämpfern im Irak eingesetzt wurden.

Was sagt die Regierung Syriens zu den Vorwürfen?

Die syrische Armee hat jegliche Verantwortung für den Angriff auf Chan Scheichun «kategorisch» zurückgewiesen. Sie habe niemals Giftgas eingesetzt und werde dies auch künftig nicht tun. Vielmehr seien «terroristische Gruppen» verantwortlich, etwa der IS, der ebenfalls im Besitz von Giftgas ist.

Das beteuerte zuletzt immer wieder auch Bashar al-Assad selbst. Er verwies dabei auf die Uno-Resolution 2118, ein Beschluss des Weltsicherheitsrats von September 2013, wonach Syrien sämtliche Chemiewaffen abzugeben hatte. 

Tatsache ist aber: Uno-Ermittler haben nachgewiesen, dass das Assad-Regime zwischen April 2014 und Dezember 2016 mindestens vier Mal Chlorgas einsetzte – in Aleppo sowie in der Provinz Idlib, wo auch die Stadt Chan Scheichun liegt. Chlor wird zwar offiziell nicht zu den Chemiewaffen gezählt, allerdings dann, wenn es in kriegerischer Absicht eingesetzt wird. Russland als Schutzmacht der syrischen Regierung blockierte jedoch bisher eine Verurteilung durch den Uno-Sicherheitsrat. 

Welche Bedeutung hat Chan Scheichun?

Das Gebiet um Chan Scheichun ist nach der Rückeroberung Aleppos durch die syrische Armee die wichtigste Hochburg der Opposition. In der Provinz Idlib leben rund 900'000 Flüchtlinge, die vor Assads Truppen oder dem IS geflohen sind.

Man kann auch sagen: In Idlib sammelt das Regime gerade seine Gegner, zu denen neben einer Vielzahl von Rebellenbündnissen auch die Terrororganisation Eroberungsfront Syriens (früher: al-Nusra-Front) gehört. Deswegen wird die Provinz vom Regime und von Russland regelmässig aus der Luft angegriffen. Es liegt daher nahe, dass das Regime und nicht jemand anders für den jüngsten Giftgasangriff verantwortlich ist.

Wieso erfolgte der Angriff gerade jetzt?

Diese Frage ist zu diesem Zeitpunkt vielleicht am schwierigsten zu beantworten. Auch wieso bei Angriff gerade das Giftgas Sarin zum Einsatz kam, ist nicht ganz nachvollziehbar – kann das Assad-Regime eigentlich durch Bomben mit weniger Aufmerksamkeit mehr erreichen. 

Auffällig: Der Angriff auf Chan Scheichun fiel mit dem Beginn der Syrien-Konferenz in Brüssel zusammen. Die deutsche Politikwissenschaftlerin Kristin Helberg vermutet deshalb ein gewisses Kalkül: «Die zeitliche Überschneidung ist irritierend. Heute und morgen sitzen in Brüssel Vertreter von 70 Organisationen und Staaten zusammen, die über die Unterstützung Syriens in der Zukunft diskutieren wollen. Und in dem Moment startet mutmasslich das Regime einen Giftgasangriff», sagt Helberg in einem Gespräch mit der «Zeit»

«Man könnte es so verstehen, dass das Regime allen zeigen will, dass es ohnehin macht, was es will.» Ausserdem sei es eine blosse Terrorisierung von Zivilisten, so Helberg. «An Fassbomben und Raketen haben sie sich gewöhnt. Aber Giftgas erzeugt Panik.» (gr)

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