Chan übergibt den Stab nach zehn Jahren im Juli an einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin. Die Entscheidung fällt erstmals mit einer Kampfabstimmung, weil die 194 Mitgliedsländer sich nicht in einem Ausschuss vorab einigen konnten.
Drei Experten haben sich beworben: der äthiopische Malaria-Forscher und frühere Gesundheitsminister Tedros Adhanom Ghebreyesus, die pakistanische Kardiologin und frühere Gesundheitsministerin Sania Nishtar und der britische Arzt und UNO-Berater David Nabarro.
Vor Chans Abschlussrede am Montag störte ein Exiläthiopier die Versammlung, um gegen eine Wahl von Tedros aufzurufen. Auf der Place des Nations protestierten zudem rund hundert weitere Demonstranten gegen Tedros, dem sie vorwerfen, mehrere Cholera-Epidemien in Äthiopien verschleiert zu haben.
Der neue Chef - oder die neue Chefin - muss nach dem viel zu späten Eingreifen der WHO bei der Ebolakrise in Westafrika 2014 vor allem wieder Vertrauen aufbauen. Die Epidemie lief aus dem Ruder und 11'000 Menschen kamen um.
Chan, die bei ihrer Rede mit einer stehenden Ovation bedacht wurde, räumte am Montag das Versagen bei der Ebolakrise als grossen Fehler ein. Es seien aber schnell Reformen eingeleitet worden, und die Organisation sei heute besser aufgestellt.
Scharfe Kritik äusserte Chan an die Impfverweigerer in Europa und den USA. «Die jüngsten Masernausbrüche hätten nie passieren dürfen.» Die Viren seien dadurch in viele andere Länder getragen worden. Das Verweigern von Impfungen sei mindestens ein Grund, warum das riesige Potenzial durch das Impfen noch nicht vollumfänglich realisiert worden sei.
Neben der Wahl für die Nachfolge Chans steht auch die Verabschiedung des Zweijahresbudgets 2018-2019 auf der Traktandenliste der bis am 31. Mai dauernden Vollversammlung. Besprochen werden sollen auch die Prioritäten für die Gesundheit von Flüchtlingen.
Eröffnet wurde die 70. Weltgesundheitsversammlung der WHO am Morgen von Bundesrat Alain Berset. In seiner Rede warb er für den globalen Aktionsplan gegen Demenz, für den sich die Schweiz seit Jahren einsetzt und der von der Versammlung verabschiedet werden wird.
Zudem ging er auf die Attacken gegen Gesundheitseinrichtungen in Konfliktgebieten ein. Diese seien «inakzeptabel», sagte er vor den Delegierten. «Wir müssen alles tun, um den Organisationen vor Ort ihre Arbeit zu ermöglichen», sagte der Vorsteher des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI).
Der Schutz von Gesundheitseinrichtungen in Konfliktgebieten stand auch im Zentrum einer von der Schweiz zusammen mit Kanada organisierten Diskussion, die am Rande der Vollversammlung durchgeführt wurde. Laut WHO-Zahlen wurden 2016 über 300 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen oder Medizinpersonal gezählt.
In der Diskussion schlug Afghanistan vor, in der Vollversammlung eine Resolution zum Thema auszuarbeiten. Dieses Szenario müsse man «vertiefen», sagte Berset zur Nachrichtenagentur sda. Auf jeden Fall sollten die Aktionen der von der Schweiz und Kanada geführten informellen Gruppe ausgeweitet werden.