Kaum einer kennt den russischen Präsidentin Wladimir Putin (69) wirklich. Selbst der eigene Geheimdienst wurde vom Angriff gegen die Ukraine überrascht, glaubt man einem geleakten Dokument.
Auch die Russland-Expertin Angela Stent (75) hätte nicht damit gerechnet, dass es tatsächlich zum Krieg kommt. «Obwohl kaum jemand wirklich damit gerechnet hat, hätte uns Putins totale Invasion der Ukraine eigentlich nicht überraschen sollen. Schliesslich beschwerte er sich jahrelang über die in seinen Augen bestehenden Missstände», sagt Stent zum «Focus». Aber niemand habe ihn ernst genug genommen.
Die ehemalige amerikanische Nachrichtendienstagentin gilt als renommierte Putin-Kennerin und veröffentlichte 2019 das Buch «Putins Russland». Als Mitglied eines exklusiven Kreis an internationalen Gästen, die Putin jedes Jahr für ein Abendessen zu sich in den Kreml einlud, hatte sie einen exklusiven Zugang zum Kremlchef.
«Immer zorniger und sarkastischer»
Bei diesen Gelegenheiten konnte sie sich nicht nur ein Bild vom russischen Präsidenten machen, sondern kam auch mit ihm ins Gespräch. Bis zu drei Stunden hätten ihre Tischgespräche jeweils gedauert. Dabei fielen ihr im Laufe der Jahre einige Veränderungen an Putin auf, wie sie im Gespräch mit «Focus» sagt.
«In den letzten Jahren kam Putin mir immer zorniger und sarkastischer vor. Obwohl er stets höflich blieb, war es offensichtlich, dass seine Haltung zu Deutschland abweisender wurde und seine Kritik an den USA schärfer». Seine Wut sei deutlich zu spüren gewesen, so Stent. Auch habe er im Vergleich zu früher viel weniger gelächelt. «Gleichzeitig strahlte er eine unglaubliche Macht aus.»
Es war der Startschuss einer Freundschaft
Auch wenn Putin mittlerweile komplett isoliert ist, gäbe es laut der Russland-Expertin Angela Stent nur eine Person, die jetzt noch zu ihm durchdringen könnte. Und zwar der ehemalige US-Aussenminister Henry Kissinger (98). Er gilt als Schwergewicht der Diplomatie und hat als angesehener Staatsmann einen guten Draht zu Putin.
Das Verhältnis der beiden sei innig. Das beweist auch ein Blick in die Autobiografie von Putin. Darin schildert der Kreml-Chef seine erste Begegnung mit Kissinger.
Auf dessen beharrliche Fragen nach seiner Herkunft und Hintergrund antwortete Putin mit: «Früher war ich im Geheimdienst tätig.» Daraufhin soll Kissinger gesagt haben: «Ich auch. Alle anständigen Menschen haben mal im Nachrichtendienst angefangen.» Es war der Startschuss ihrer Freundschaft.
Kissinger dürfte zu alt sein
Der Friedensnobelpreisträger Kissinger rief in der Vergangenheit immer wieder dazu auf, ein ausgewogeneres Gleichgewicht in der Machtverteilung zwischen den USA und Russland herzustellen. Kissinger war es auch, der bereits 2014 vor der Komplexität des russisch-ukrainischen Verhältnisses warnte. In einem kürzlich von ihm verfassten Aufsatz in der «Emma» schrieb er, die Ukraine sollte eine Brücke zwischen Ost und West sein.
Angela Stent sieht aber nicht allzu viel Hoffnung, dass der ehemalige US-Aussenminister tatsächlich als Vermittler in den Krieg eingreift. «Kissinger ist 98 Jahre alt. Insofern weiss ich nicht, ob er dazu noch im Stande wäre.» (ced)