Der langjährige deutsche Botschafter in Russland, Rüdiger von Fritsch (68), wirft Moskau vor, die durch den Ukraine-Krieg verursachte globale Versorgungskrise und die dadurch drohenden Fluchtbewegungen als Mittel der Kriegsführung zu nutzen. «Wladimir Putin versucht gezielt, Hungerkrisen im Nahen Osten und in Nordafrika zu erzeugen», sagt von Fritsch in der Sonntagsausgabe des Berliner «Tagesspiegels» über den 69-jährigen russischen Staatschef. Deshalb hindere Russland die Ukraine am Getreide-Export und bombardiere sogar Getreidesilos.
«Putins Kalkül besteht darin, dass nach dem Zusammenbruch der Getreidelieferungen die hungernden Menschen aus diesen Regionen fliehen werden und versuchen, nach Europa zu kommen - wie damals die Millionen Syrer, die vor den Schrecken des Krieges flohen», sagt von Fritsch, der Putin in der Vergangenheit mehrfach persönlich getroffen hatte. «Mit neuen Flüchtlingsströmen will er Europa destabilisieren und politischen Druck aufbauen, damit westliche Staaten ihre harte Haltung gegen Russland aufgeben.»
Dies sei «eine neue hybride Kriegsführung», kritisiert der Diplomat, der in Kürze das Buch «Zeitenwende: Putins Krieg und die Folgen» veröffentlicht.
Kein rasches Kriegsende
Von Fritsch glaubt nicht an ein rasches Ende des Krieges. Putin habe mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar «das Schachbrett umgeworfen» und «den erfolgreichen Versuch, in Europa gemeinsam Sicherheit zu schaffen, abrupt beendet».
Für Putin komme eine Niederlage in der Ukraine nicht in Frage, da er dort inzwischen um seine eigene Macht in Russland kämpfe, sagte der Ex-Botschafter. Daher sei die Wahrscheinlichkeit gross, «dass er versuchen wird, diesen Krieg fortzusetzen und zu eskalieren».
Dass der russische Staatschef dabei auch Atomwaffen einsetzen könnte, glaubt von Fritsch nach eigenen Angaben nicht: «Putin ist weder verrückt noch irrational. Er gehorcht einer anderen Logik.» Die Äusserungen der russischen Führung zu den Lieferungen westlicher Länder von schweren Waffen an die Ukraine machten deutlich, «dass sie bislang sehr genau vermeidet, in eine militärische Konfrontation mit der Nato zu geraten». (AFP)