Frisch gewählt, schon ein Skandal
Chiles Hoffnungsträger twitterte Israel-Kritik

Erst am Sonntag wurde Gabriel Boric zum Präsidenten Chiles gewählt – als jüngster Kandidat jemals. Nun wird ihm ein zwei Jahre alter Tweet zum Verhängnis.
Publiziert: 21.12.2021 um 13:54 Uhr
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Er ist der jüngste Präsident in der Geschichte von Chile: Gabriel Boric.
Foto: imago images/Aton Chile

Er werde ein Präsident «für alle Chileninnen und Chilenen» sein. So vollmundig kündigte Gabriel Boric (35), jüngster Präsident Chiles, seinen Plan in seiner Siegesrede an. Mit einem überraschend deutlichen Ergebnis von knapp 56 Prozent der Stimmen hatte sich der frühere Studentenführer in der Stichwahl am Sonntag gegen den Rechtspopulisten José Antonio Kast (55) durchgesetzt.

Ein Feminist, ein Progressiver gelangt gegen einen Rechtspopulisten mit einem Erdrutschsieg ins höchste Amt: Die Wahl Borics galt als Aufbruchssignal, vielleicht sogar die wichtigste Wahl seit der Rückkehr Chiles zur Demokratie 1990. Doch schon einen Tag später trübt sich die Freude über den jungen Hoffnungsträger.

Grund dafür ist ein gehässiger Anti-Israel-Tweet. «Die Jüdische Gemeinde in Chile hat mir ein Glas Honig zum jüdischen Neujahrsfest geschickt und bekräftigt ihr Engagement für eine ‹integrativere, solidarischere und respektvollere Gesellschaft›», twitterte Boric. Er wisse «die Geste zu schätzen», aber die Jüdinnen und Juden in Chile «sollten besser Israel auffordern, die illegal besetzten palästinensischen Gebiete zurückzugeben».

Jüdische Gemeinschaft gratulierte Boric zum Wahlsieg

Der Tweet stammt von Oktober 2019, doch macht nun in den sozialen Netzwerken die Runde. «An alle, die sich gar nicht mehr einkriegen können vor Freude über den ach so ‹woken› und progressiven Präsidenten Chiles: voilà seine Haltung zu Israel und zur jüdischen Community in seinem Land. Disgusting», schreibt Olaf Wientzek, Leiter des Genfer Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung auf Twitter. Mehrere Userinnen und User bezeichnen Borics Tweet als «antisemitisch».

Die «Times of Israel» nannte Boric einen «erbitterten Israel-Kritiker». Die Wahl selbst habe bei chilenischen Juden ein «Unbehagen» hinterlassen, da sie sich zwischen Boric und dem deutschstämmigen Rechtspopulisten José Antonio Kast, der wahrscheinlich aus einer Nazi-Familie stammt, hätten entscheiden müssen.

Die Jüdische Gemeinde, die die Interessen von Chiles rund 18'000 Juden vertritt, gratulierte Boric trotz der komplizierten Beziehung. Die Gemeinde wünsche ihm und seiner Regierung «viel Erfolg» und lobte die Transparenz der Wahlen des Landes. In der kurzen Erklärung hiess es ausserdem: «Wir werden uns weiterhin für ein demokratisches, vielfältiges Chile einsetzen, in dem Minderheiten respektiert werden.»

Boric gewann auch ländliche Regionen

Boric tritt sein Amt am 11. März an. Amtsinhaber Sebastián Piñera (72) wünschte der künftigen Regierung auf Twitter «den allergrössten Erfolg». Auch die Europäische Union gratulierte und freute sich auf die Zusammenarbeit.

Boric, der aus Punta Arenas an der Südspitze des südamerikanischen Landes stammt, hatte 2011 die Studentenproteste in Chile angeführt und war 2013 zum Abgeordneten gewählt worden. Im ersten Wahlgang vor vier Wochen hatte er knapp hinter Kast noch Platz zwei belegt.

Vor der Stichwahl versuchten er und Kast, sich gemässigter als bis dahin zu zeigen. Offensichtlich gelang es Boric, dessen Koalition etwa die Kommunistische Partei angehört, seine Basis in der Hauptstadt Santiago de Chile zu erweitern und Unterstützer in ländlichen Gebieten des langen, schmalen Landes zwischen Anden und Pazifik zu gewinnen. So hängte er Kast etwa in der nördlichen Region Antofagasta, in der eine Migrationskrise herrscht, ab.

Progressive Linke will Pinochet-Erbe überwinden

Mit der Stichwahl zwischen Boric und Kast wurde nicht nur das traditionelle Parteiengefüge in Chile vorerst Geschichte. Das erste Mal seit der Rückkehr zur Demokratie 1990 hatten es die traditionellen Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Parteien nicht in die Stichwahl geschafft. Mit dem 35-Jährigen Boric zieht nun auch eine neue politische Generation in den Präsidentenpalast ein, die die Militärdiktatur von Augusto Pinochet (1915–2006) von 1973 bis 1990 nicht mehr erlebte und sich von dessen Erbe trennen will.

So wolle er etwa das neoliberale Wirtschaftsmodell, das General Pinochet mit Hilfe der «Chicago Boys» in Chile eingeführt hatte, begraben, hatte Boric im Wahlkampf gesagt. Er steht für eine wiederbelebte progressive Linke, die vor allem seit 2019 stark gewachsen ist. Unter seiner Führung dürfte das Land den eingeschlagenen Kurs des Aufbruchs alter Strukturen, der einem Teil der Gesellschaft zu schnell und zu weit gegangen zu sein schien, beibehalten. Mit welchen Herausforderungen er es dabei zu tun bekommen könnte, zeigte sich, als der chilenische Aktienindex an der Börse in Santiago am Montag abstürzte.

Chileninnen und Chilenen forderten Rücktritt von Amtsinhaber

Boric hat ein öffentliches Bildungswesen und bessere Gesundheitsversorgung nach dem Vorbild des europäischen Sozialstaats versprochen. Zudem setzt er sich für die Rechte von Migranten, Indigenen und Homosexuellen ein. Sein 20 Jahre älterer Rivale Kast hingegen hatte Steuersenkungen, einen Grenzgraben gegen illegale Einwanderung und hartes Vorgehen gegen Kriminelle in Aussicht gestellt. Der neunfache Vater und strenggläubige Katholik von der Republikanischen Partei gilt als Pinochet-Sympathisant.

Chile hat eine lange demokratische Tradition, die durch den Putsch Pinochets 1973 für 17 Jahre unterbrochen wurde, und gilt heute als eine Art Musterbeispiel in der Region. Das Land hat das höchste Pro-Kopf-Einkommen in Südamerika, die Armut konnte in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gesenkt werden. Doch die soziale Schere geht auch weit auseinander. Weite Teile des Gesundheits- und Bildungswesens sind privatisiert und für viele schwer erschwinglich, immer mehr Chileninnen und Chilenen fühlen sich abgehängt.

Vor zwei Jahren forderten deshalb über Wochen hinweg jeden Tag Tausende Demonstranten soziale Reformen und den Rücktritt Piñeras. Eine ihrer wichtigsten Forderungen, die auch Boric unterstützte, konnten sie bereits durchsetzen: Derzeit arbeitet ein Konvent eine neue Verfassung aus. Der aktuelle Text stammt noch aus der Zeit der Militärdiktatur. (kin/SDA)

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