Ein Albtraum muss er für die Protokollhüter des Vatikans sein, dieser beleibte Mann in Weiss, der am Samstag die Audienzhalle des Heiligen Stuhls betritt. Während Benedikt XVI. bei solchen Anlässen jeweils sanft hineinzuschweben pflegte, stampft Franziskus förmlich auf die Bühne.
Applaus brandet auf, Jorge Mario Bergoglio (76) lacht breit und winkt den mehreren Tausend versammelten Journalisten, Fotografen und Kameraleuten zu. Die Entourage ist mit der spontanen Impulsivität des neuen Chefs sichtlich überfordert.
«Ihr habt ganz schön gearbeitet», scherzt er, nachdem er uns als «liebe Freunde» begrüsst hat. Seine kurze Ansprache hat er vorbereitet, er liest zunächst ab Manuskript.
Nicht er, der Papst, sondern Christus müsse im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen, sagt Franziskus.
Plötzlich unterbricht er. Er müsse uns Journalisten noch eine kleine Geschichte erzählen. Als die Stimmenzahl im Konklave die nötige Zweidrittelmehrheit erreicht habe und Applaus aufgekommen sei, habe sein Freund, der brasilianische Kardinal Claudio Hummes (78), ihn umarmt und gesagt: «Vergiss die Armen nicht!»
In diesem Augenblick sei in ihm die Idee gekommen, sich gleich zu nennen wie Franziskus von Assisi, dieser Mann der Armut und des Friedens. Einer, der auch für die Liebe zur Schöpfung stehe – zu der hätten die Menschen ja gegenwärtig keine sonderlich gute Beziehung.
Mehrere Kardinäle hätten ihm vorgeschlagen, er solle sich doch Clemens XV. nennen, um sich zu «rächen», fügt er hinzu. Eine ironische Bemerkung in Anknüpfung an Clemens XIV., der den Jesuitenorden, dem Bergoglio angehört, aufgelöst hatte.
Der Name ist Programm
Die Botschaft des neuen Papstes ist klar: Das mit meinem Namen ist kein Beiwerk. Er ist Programm. Durch und durch.
Dass der erste lateinamerikanische Papst es damit ernst meint, zeigte sich schon in den ersten Minuten seines Pontifikats. Beim Umziehen liess er die Mozetta, den hermelinumsäumten, purpurnen Umhang liegen, die roten Schuhe ebenfalls. Auch das wertvolle, diamantenbesetzte Kreuz rührte er nicht an.
In den schweren S-Klasse-Mercedes, der ihm zusteht, hat er sich noch kein einziges Mal gesetzt. Den Koffer im stehaus, wo er vor dem Konklave genächtigt hatte, hat er eigenhändig abgeholt. Noch einmal sprach er dort mit allen Angestellten, die er seit langem kennt: «Wie gehts deiner Frau? Was machen deine Kinder?»
Unkompliziert ist er, der Papst aus Argentinien. Direkt. Geerdet. Viele Menschen werden diesen Mann verehren.
Andere werden sich an ihm die Zähne ausbeissen. Denn Franziskus passt in kein gängiges Koordinatensystem, schon gar nicht in ein westeuropäisches.
Theologisch knüpfte er schon beim allerersten Auftritt an seinen Vorgänger an. Der hatte betont, er ziehe sich zum Gebet zurück. Jetzt betete Franziskus von der Mittelloggia des Petersdoms mit den Gläubigen.
Wie für Ratzinger ist auch für Bergoglio der christliche Glaube nicht einfach eine abstrakte Idee, die sich nach Belieben modellieren lässt.
Der christliche Gott hat sich in der Geschichte offenbart. Der Welt eine Schöpfungsordnung eingeschrieben. Dem Menschen ein Sittengesetz mitgegeben.
Das ist die unverhandelbare Basis, von der aus sich Bergolio mit der Welt anlegen wird. Abtreibungen, die Homo-Ehe oder das Adoptionsrecht für Schwule und Lesben wird er stets geisseln. Dass Menschen in unwürdigen Zuständen leben müssen ebenso.
Während der professorale Ratzinger mit grosser Eleganz, aber ebenso entrückt die Botschaft Jesu lehrte, will Bergolio diese in den Schlamm der Favelas tragen. Zu einer solchen Mission passen weder rote Schuhe noch Luxuslimos mit langem Radstand.
Was der sanftmütige Ratzinger lehrte, will der hemdsärmlige Bergoglio der Welt ins Gesicht sagen – direkt und unverblümt. Dass die Armut ein Skandal ist.
Reformen im Namen Jesu
Dass es soziale Reformen braucht. Nicht als Funktionär einer frommen «Nichtregierungsorganisation» will er das tun, wie er selbst sagte, sondern im Namen Jesu.
Dazu passt, dass er sich nicht scheut, vom Teufel zu sprechen. Schon in der ersten Predigt tat er das, ausgerechnet vor jenen, die ihn mit über 90 Stimmen gewählt hatten, wie es heisst. Der Teufel, das ist für Bergoglio die totale Verweltlichung, die auch in der Kirche um sich greift. Er will «eine arme Kirche für die Armen», wie er gestern sagte.
Als Franziskus die Audienzhalle wieder mit forschem Schritt verlässt, zweifelt keiner im Saal mehr daran, dass dieser Papst einiges umkrempeln wird.
Legt er sich sofort mit den Mächtigen an? Gelegenheit dazu hat er schon morgen. Dann besucht ihn die argentinische Staatspräsidentin Cristina de Kirchner (60).
Sie hat auf die Wahl kühl reagiert. Bergoglio hatte sie wegen ihrer Haltung, zum Beispiel zur Homo-Ehe, mehrfach kritisiert.
Und: Welche Top-Posten im Vatikan besetzt er neu? Viele Kardinäle, darunter der Schweizer Kurt Koch, fordern eine Kurienreform.
Leider herrsche auch im Kirchenstaat die «Krankheit des Karrierismus». Und der ist, wie Franziskus undiplomatisch sagen würde, des Teufels.
Vieles traut man ihm zu, dem volksverbundenen Pontifex aus der Neuen Welt. Sogar dass er sich plötzlich aufs Velo schwingt und einen Ausflug in die Stadt macht. Nur eines traut man ihm nicht zu: Dass er plötzlich nicht mehr sich selbst sein könnte.