Frankreich wählt: Wer gewinnt beim ersten Wahlgang?
Sie haben kein Vertrauen mehr

In Paris wissen viele nicht, wer im Élysée-Palast regieren soll. Die Terroranschläge der letzten Jahre haben das Vertrauen in die Politik erschüttert.
Publiziert: 23.04.2017 um 11:01 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 09:45 Uhr
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Schwer bewaffnete Polizisten patrouillieren über die Champs- Élysées.
Foto: Sabine Wunderlin
Aline Wüst (Text) und Sabine Wunderlin (Fotos) aus Paris

Die Bar heisst Kitch. Sie ist klein. Das Bier vor Webmaster Florian Giraud (35) dagegen gross. Er sitzt oft hier, kennt die Gäste, die Barkeeper. Das hier ist sein Paris, das elfte Arrondissement – «ein Dorf». Zum Onzième, wie man es hier nennt, gehören neben Läden, in denen Tunesier Erdbeeren verkaufen, auch kleine Designershops, die Place de la République, vor allem aber Restaurants und Bars. Wie das Kitch.

Seit knapp zehn Jahren wohnt Giraud hier. Er will bleiben. «Würde ich wegziehen, hätten die Terroristen gesiegt.» Auch das ist das Onzième. Der Ort, an dem Attentäter im November 2015 auf Menschen schossen, die in Cafés sassen. Auf Leute, die im Bataclan ein Rockkonzert geniessen wollten. Zwei gute Freunde von Giraud waren im Bataclan. Einer starb. Seither gibt es die Zeit vor dem Anschlag und die Zeit danach.

Nun ist Wahlzeit. Giraud aber hat keine Lust: «Ich habe das Vertrauen verloren.» Die einzige Kandidatin, die über die terroristische Bedrohung spreche, sei Marine Le Pen. Doch die Rechtspopulistin komme für ihn als Präsidentin nicht in Frage. Der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon (65) wirke zwar weniger verrückt, seine wirtschaftlichen Ziele aber seien eine Katastrophe: «Wen wir auch wählen, es ist die Wahl des Falschen.»

Die Wahlplakate sind verunstaltet

Um die Ecke vom Kitch stehen die Leute bereits am frühen Abend Schlange. Der Jamaikaner Sean Paul tritt heute im Bataclan auf. «Fuck ISIS» hat jemand auf die Scheibe neben dem Eingang geschrieben. Antoine Walfard (29) steht in der Nähe und raucht. «Die Leute sind dumm.» Aus Angst wählten sie Le Pen. Er drückt die Ziga­rette an seiner Schuhsohle aus. Kennt er jemanden, der Le Pen wählt? «Zum Glück nicht!» Im Bataclan beginnt das Konzert, im Fernsehen läuft die letzte Wahlsendung. In den Cafés sitzen die Leute beim Bier. Draussen stillt eine Roma ihren Buben und bettelt. Die Plakatwände hinter ihr zeigen alle elf Präsidentschaftskandidaten.

Mitgenommen sehen sie aus: Das Gesicht von Marine Le Pen (48) ist weggekratzt, stattdessen prangt da ein Hakenkreuz, einer hat «allahu akbar» hingekritzelt, Allah ist der Grösste. Dem sozialliberalen Emmanuel Macron (39) hat jemand einen Joint in den Mundwinkel gemalt, «capitaliste» steht da. Beim konservativen François Fillon (63), der wegen Korruptionsvorwürfen in die Schlagzeilen geriet, prangt in schwarzen Lettern das Wort «racaille!» – Abschaum.

An der Rue Moret haben sich Anhänger von Mélenchon die Wahlsendung in ihrem Kampagnenbüro angeschaut. Auf Flipcharts ist notiert, an welcher Metrostation sie noch Flyer verteilen werden. Der Ingenieur Guy Didier (54) hat schon viele Flugblätter verteilt. Er glaubt, dass Mélenchon den Franzosen neue Hoffnung geben kann. «Das allein ist schon ein Sieg.» Auf dem Bartresen steht ein verwelktes Fliedersträusschen. Guy Didier hat grosse Erwartungen. Er hofft auf den Wandel, auf eine neue Welt. «Klar ist das utopisch. Aber wir brauchen Frieden.»

«Es scheint, als hätten wir uns daran gewöhnt»

Etwa zur gleichen Zeit auf den Champs-Élysées eröffnet der einschlägig vorbestrafte 39-jährige Muslim Karim C. mit einer Kalaschnikow das Feuer auf Polizisten. Ein 37-jähriger Beamter stirbt. Zwei weitere werden verletzt. Der Islamische Staat bekennt sich zu dem Anschlag.

Kurz danach beziehen schwer bewaffnete Polizisten Posten vor dem Konzertlokal Bataclan. Als Sean Paul drinnen die Bühne verlässt, treten die Konzertbesucher verschwitzt auf den Boulevard Voltaire hinaus.

Viele holen sich an einer der Imbissbuden noch ein Stück Pizza. Die Polizisten auf der anderen Strassen­seite tragen Maschinenpistolen. Florian Giraud wird am nächsten Tag in einer Whatsapp-Nachricht schreiben: «Es berührte mich, als ich vom Anschlag hörte. Aber nur für einen ganz kurzen Moment. Es scheint, als hätten wir uns bereits daran gewöhnt.»

Freitagmorgen, der Hotelier Jackie Madin (70) seufzt: «Das alte Europa ist am Ende.» Man versuche, hier etwas zu flicken, dort etwas abzudämpfen. Es sei zu spät. Frankreich sei eine Oligarchie. «Ich selber wähle nicht. Ich kann keinen von denen wählen.» Er gehe aufs Land, brauche Ruhe. «Es interessiert mich nicht mehr.» Der Hotelier erwähnt den dänischen Philosophen Sören Kierkegaard, der vor rund 200 Jahren schrieb, der Mensch brauche die Angst, sonst lerne er nichts. Will Madin damit Hoffnung ausdrücken?

Am Mittag legen Passanten auf den Champs-Élysées Blumen nieder. Ein Mann sitzt mit einem Glas Rosé im Café. Die Sonne scheint. Der Mann schaut Polizisten hinterher, die in kugelsicheren Westen Richtung Triumphbogen patrouillieren. «Je t’aime Paris», steht über einem Souvenirstand. Ali Khatra (32) isst bei McDonald’s ein Big-Mac-Menü. Der gebürtige Algerier wollte sich heute Morgen eigentlich noch rasieren – wegen des Anschlags gestern, weil dann immer alles angespannter sei als sonst. Die Anschläge seien nicht religiös motiviert. Es gehe um Politik, letztlich um Geld, wie überall: «Dabei sollte es doch um unsere Kinder gehen. Ihnen diese schöne Welt zu erhalten.» Kathra schiebt die letzten Pommes in den Mund.

50'000 Polizisten werden den ersten Wahlgang sichern

An den Zugängen zur Metrostation Voltaire werden abends nochmals Flyer verteilt, manchmal auch geflirtet. «Gehörst du zu denen, die nicht wählen gehen?», ruft ein junger Mélenchon-Anhänger einer Pariserin nach. Sie dreht sich kurz um, lächelt ihn an und geht weiter.

Auf der Place de la République steht Samia Chabbaoui (25). Sie trägt einen Hut, hat die Lippen rot geschminkt und will sich zur Wehr setzen gegen den Hass, der sich durch die Gesellschaft fresse. «Es gibt die Solidarität noch. Wir werden einen Weg finden, wie wir weiterhin friedlich zusammenleben können.» Sie wird den Sozialisten Benoît Hamon (49) wählen. Chancen hat er keine. Doch Chabbaouis trotzige Lust auf eine hoffnungsvolle Zukunft wirkt ansteckend.

Auf der Rue Léon Frot geht ein Mädchen rückwärts. Die Mutter hat es eilig, schimpft: «Marie, dreh dich um. Geh richtig!» Marie will nicht.

Viele Pariser wissen heute nicht mehr, in welche Richtung ihr Land gehen soll. Welcher Präsident sie auf diesem unsicheren Weg anführen soll, können die Franzosen heute entscheiden.

50'000 Polizisten werden den ersten Wahlgang sichern.

Wer sind die Kandidaten?

Wer sind eigentlich die vier Favoriten im Rennen um das Präsidentenamt in Frankreich? Blick informiert Sie mit den wichtigsten Fragen und Antworten zur Herkunft, den politischen Zielen und den bekannten Skandalen der Spitzenkandidaten Le Pen, Macron, Fillon und Mélenchon.

Marine Le Pen: Mehr Informationen zur Präsidentschaftskandidatin der Front National lesen Sie hier.

Mehr über den Parteilosen Beau Emmanuel Macron lesen Sie hier.

Alles Wichtige zum Politikprogramm und der Finanzaffäre von François Fillon gibt es hier.

Der Favorit der Sozialisten Jean-Luc Mélenchon trat relativ spät ins Rennen ein. Das müssen Sie über ihn wissen.

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