Herr Endrass, soll man die Schweizer Dschihadisten aus dem Krisengebiet zurückholen?
Jérôme Endrass: Das ist eine politische Frage, über die Politiker entscheiden müssen. Aus Sicht der Prävention ist es nicht verkehrt, diese Personen hier in der Schweiz kontrolliert zu entschärfen, statt sie in weiter Ferne ihrem Schicksal zu überlassen.
Ist es denn überhaupt möglich, solche Menschen zu «entschärfen», also nach einer Verurteilung wieder auf den richtigen Weg zu bringen?
Ich möchte zunächst klarstellen: Forensisch gesehen ist es falsch zu meinen, dass Dschihadismus ein besonderes Phänomen ist, das wir nicht in den Griff kriegen können. Tatsächlich unterscheidet sich der Dschihadismus gar nicht so stark von anderen Phänomenen, etwa dem Rechtsextremismus. Es gibt bewährte Präventionsprogramme, die sich gut für Dschihadisten adaptieren lassen. Natürlich gibt es gewisse Herausforderungen, die berücksichtigt werden müssen. Aber nichts, was wir nicht lösen könnten.
Wie muss man denn Dschihadisten behandeln?
Es gibt nicht einfach DEN Dschihadisten. Man kann sie grob in vier Gruppen einteilen: Es gibt den Mitläufer, der sich in einer Lebenskrise befindet. Dann jenen, der streng geführte Organisationen wie etwa Sekten toll findet, den psychisch Labilen sowie den typischen Verbrecher, der Gewalt ausüben will. Jeder braucht ein auf sich zugeschnittenes Interventionsprogramm.
Ist nicht gerade bei der vierten Kategorie die Rückfallgefahr speziell gross?
Im Zürcher Amt für Justizvollzug werden über 85 Prozent der entlassenen Schwerverbrecher nicht rückfällig. Das dürfte auch für gewaltbereite IS-Sympathisanten nach einem erfolgreich durchgeführten Programm gelten, wobei die Rückfallrate noch deutlich tiefer liegen dürfte.
Warum denn das?
Die Erfahrung zeigt, dass aus Verbrechern, die unter dem Deckmantel der Ideologie handelten, oft wieder unauffällige Menschen werden, wenn sie in die Zivilgesellschaft zurückkehren. Ein historisches Beispiel: Im Zweiten Weltkrieg haben Hunderttausende Deutsche sich an Massakern beteiligt und waren für einen Genozid verantwortlich. Nach der Rückkehr aus dem Krieg haben sie sich sehr schnell wieder in die Gesellschaft integriert und sich unauffällig verhalten.
Eine besondere Herausforderung sind jene Frauen, die beim IS Mutter geworden sind und deren Kinder in einer Terrororganisation aufwachsen. Wie soll man mit ihnen umgehen?
Dieses Problem haben Fachpersonen schon länger auf dem Radar, wobei es sich nicht gerade um ein Massenphänomen handelt. Für die Einzelfälle gilt aber: Man muss unter allen Umständen verhindern, dass das Kind stigmatisiert wird. Ob die Frau nach einer Rückkehr das Sorgerecht behalten kann, muss die Vormundschaftsbehörde aufgrund der Schwere ihres Verbrechens und ihrer Erziehungsfähigkeit beurteilen.
Viele Mütter haben ihr Kind nach einem Terrorfürsten benannt. Soll man dem Kind bei einer Rückkehr in die Schweiz einen neuen Namen verpassen?
Man muss im Einzelfall entscheiden, ob der Name für das Kind zumutbar ist oder nicht. Wenn ein Kind einen häufigen Namen trägt, ist es sicher kein Problem. Anders ist es aber, wenn mit dem Namen ausschliesslich ein Dschihadist in Verbindung gebracht wird. Aber die Behörden wissen gut, wie sie reagieren müssen, auch dann, wenn Eltern ihr Kind Adolf nennen möchten…
Zurzeit diskutiert der Bundesrat, wie er mit IS-Anhängern mit Schweizer Pass umgehen soll. Was würden Sie empfehlen?
Wie gesagt, gebe ich keine politische Empfehlung ab. Aus forensischer Sicht ist zu sagen, dass es durchaus Interventionsansätze gibt, wie man mit Rückkehrern umgehen kann.
Jérôme Endrass (48) ist Professor für Forensik an der Uni Konstanz (D) und Stabschef des Zürcher Amts für Justizvollzug. Zudem wirkt er bei der Schweizerischen Gesellschaft für Rechtspsychologie im Vorstand mit.
Jérôme Endrass (48) ist Professor für Forensik an der Uni Konstanz (D) und Stabschef des Zürcher Amts für Justizvollzug. Zudem wirkt er bei der Schweizerischen Gesellschaft für Rechtspsychologie im Vorstand mit.