Flüchtlings-Experte sieht Ergebnis von EU-Asyl-Gipfel kritisch
«Merkel hat gewonnen und verloren»

Mit abgeriegelten Lagern in Europa und Nordafrika will die EU der Flüchtlingsproblematik begegnen. Der emeritierte ETH-Professor und Flüchtlings-Experte Jürg Martin Gabriel hält die Pläne für «illusorisch».
Publiziert: 29.06.2018 um 20:04 Uhr
|
Aktualisiert: 17.10.2018 um 19:30 Uhr
1/2
Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel musste Zugeständnisse machen, hat mit dem Ergebnis des Gipfels aber einen Teilerfolg erzielt.
Foto: Reuters / Francois Lenoir
Andrea Cattani

Die Rede ist von einem Durchbruch, von einer gemeinsamen Lösung der Flüchtlingsfrage. Nach zähen mehrstündigen Verhandlungen verkündeten die EU-Staatschefs am Freitag in den frühen Morgenstunden ihren Plan, wie sie in Zukunft mit Bootsflüchtlingen auf dem Mittelmeer umgehen wollen. 

Vor allem Sammellager in Nordafrika, sogenannte Ausstiegsplattformen, sollen dabei helfen, Migranten an der Reise nach Europa zu hindern. Zudem dürfen EU-Länder freiwillig geschlossene Aufnahmezentren errichten, von wo aus die Menschen dann auf andere Staaten verteilt werden sollen.

Der ehemalige ETH-Professor Jürg Martin Gabriel beobachtet seit Jahren das Geschehen auf dem Mittelmeer. Für BLICK hat er das Ergebnis des Flüchtlingsgipfels in Brüssel analysiert.

BLICK: Herr Gabriel, ist das Resultat der EU-Verhandlungen tatsächlich ein so grosser Erfolg, als den ihn die Staatschefs nun bezeichnen?
Jürg Martin Gabriel: Für einige Politiker ist es ganz sicher ein Erfolg. Allen voran für den italienischen Innenminister Matteo Salvini. Er hat in den letzten Wochen permanent auf die Pauke gehauen und Stimmung gemacht. Die EU-Pläne kann er jetzt in seiner Heimat als Erfolg verkaufen.

Was ist mit Angela Merkel? Das Treffen der Staatschefs wurde ja beinahe zum Schicksalsmoment für die deutsche Kanzlerin erklärt.
Merkel hat gewonnen und verloren. Ein Erfolg für sie ist, dass Flüchtlinge aus den EU-Auffanglagern auf die Mitgliedstaaten verteilt werden sollen, was von Anfang an ein Anliegen der Kanzlerin war. Doch sie musste auch Zugeständnisse machen. Um die osteuropäischen Regierungen oder auch Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz beim Deal an Bord zu haben, musste Merkel die Idee von Sammellagern in Nordafrika akzeptieren.

Diese Sammellager werden bereits jetzt von verschiedenen Seiten kritisiert. Wieso?
Auf EU-Boden gibt es solche Zentren schon seit längerem. Diese sind weniger das Problem. Es ist aber völlig illusorisch zu glauben, dass sich nordafrikanische Staaten wie Tunesien oder Marokko für die Pläne der europäischen Staatschefs einspannen lassen. Diese Idee lässt sich in Europa gut verkaufen, aber das ist Augenwischerei. Die Frage nach der Machbarkeit dieser Sammellager muss klar mit Nein beantwortet werden.

Nochmals zu Angela Merkel: Hat sich ihre Position mit dieser neuen Flüchtlings-Vereinbarung verändert?
Die deutsche Kanzlerin hat auf jeden Fall Zeit gewonnen. Der Druck ist dadurch nicht weg. Es muss aber auch klar gesagt sein: Merkel zu versenken, wäre das Dümmste. Darunter würden alle leiden: die EU, der Euro, Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron. Es braucht Merkel, damit Europa die Flüchtlingsproblematik meistern kann. 

Was hat der EU-Gipfel denn konkret gebracht?
Das Flüchtlingsthema wird auch in Zukunft ein Dauerbrenner bleiben. Es gibt trotz dieses Treffens Grauzonen in den Regelungen, die zu Streit und Krisen führen werden. Man hat ja auch nur über die Probleme an den EU-Aussengrenzen gesprochen. Wie innerhalb der Union verfahren werden soll, war noch gar kein richtiges Thema. Aber man tastet sich Schritt für Schritt an eine gemeinsame Lösung heran. So funktioniert die EU. Bei den bilateralen Verträgen zwischen Brüssel und der Schweiz war das nicht anders.

Flüchtlingskrise

Die EU streitet über den Umgang mit Flüchtlingen. BLICK zeigt anhand von Daten, wie schlimm die globale Flüchtlingskrise ist. Und wie die Welt, Europa und die Schweiz damit umgehen. Hier lesen Sie weiter.

An Italiens Küste wurden laut SEM im Mai mehr ankommende Flüchtlinge registriert als im Vormonat. Sie wollen aber nicht primär in die Schweiz. (Archiv)
Gemäss Uno sind so viele Menschen auf der Flucht wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr: unvorstellbare 68,5 Millionen.
KEYSTONE/EPA ANSA / ITALIAN NAVY PRESS OFFICE/ITALIAN NAVY PRESS

Die EU streitet über den Umgang mit Flüchtlingen. BLICK zeigt anhand von Daten, wie schlimm die globale Flüchtlingskrise ist. Und wie die Welt, Europa und die Schweiz damit umgehen. Hier lesen Sie weiter.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?