Zu Beginn ihres Türkei-Aufenthaltes hat Angela Merkel heute ein syrisches Flüchtlingslager im Südosten des Landes besucht. Die deutsche Kanzlerin traf am frühen Morgen mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu sowie EU-Ratspräsident Donald Tusk und EU-Vizekommissionspräsident Frans Timmermans im Lager in Nizip ein.
Drei Militärhelikopter begleiteten den Konvoi der Kanzlerin vom Flughafen Gaziantep. Am Lager wurden Merkel und Davutoglu von Flüchtlingen in traditioneller Tracht mit Blumen in Empfang genommen.
Merkel wollte sich vor Ort ein Bild von der Umsetzung des Flüchtlingsdeals mit Ankara machen. Im Camp in Nizip etwa 10'000 der rund 2,7 Millionen syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge in der Türkei.
Die EU will mit mehreren Milliarden Euro Ankara dabei unterstützen, die Menschen gut zu versorgen und die Kinder in die Schule zu schicken. Elend und Aussichtslosigkeit in Flüchtlingslagern gilt als eine der Ursachen dafür, dass sich die Menschen weiter auf die Flucht begeben.
Türkei leistet «allergrössten Beitrag»
Nach dem Besuch des Flüchtlingslagers würdigten Merkel und Tusk die Anstrengungen der Türkei in der Flüchtlingskrise. Syrische Flüchtlinge seien in der Türkei willkommen und mit der Aufnahme von drei Millionen Migranten habe die Türkei «den allergrössten Beitrag» bei der Bewältigung der Flüchtlingsströme übernommen, sagte Merkel am Abend im türkischen Gaziantep.
Es sei wichtig für sie gewesen, «mal zu erleben, wie Menschen aus ihrem praktischen Leben berichten», sagte die Kanzlerin. Tusk fügte hinzu, die Türkei sei «heute das beste Beispiel für die Welt insgesamt, wie wir mit Flüchtlingen umgehen sollten». Keiner habe «das Recht, belehrend auf die Türkei einzuwirken, wenn es darum geht, wie man sich richtig verhält», sagte der EU-Ratspräsident.
Die Flüchtlingsströme über die Ägäis hätten seit dem im März geschlossenen EU-Türkei-Abkommen deutlich abgenommen und die EU befinde sich nun auf dem Weg der illegalen zur legalen Migration.
Visum-Knatsch: Erdogan warnt EU
Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu bekräftigte im Gegenzug die Forderung nach einer Visafreiheit für Türken bei Reisen in den Schengen-Raum. «Das ist für die Türkei essenziell», sagte er.
Die Abschaffung der Visapflicht für Türken ist Teil des EU-Türkei-Pakts zur Eindämmung des Flüchtlingsandrangs in die EU. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte zuletzt gewarnt, die Umsetzung des Pakts sei an die Gewährung der Visafreiheit gekoppelt.
Für die Visumfreiheit muss die Türkei 72 Kriterien erfüllen. Sie umfassen etwa die Frage der Anerkennung von Dokumenten und Fragen der Ein- und Ausreise. Auch beim Thema der Öffentlichen Sicherheit, der Zusammenarbeit der Justiz sowie der Einhaltung der Grundrechte muss die Türkei eine Reihe von Voraussetzungen erfüllen. Jedoch ist noch strittig, wie viele dieser Bedingungen bisher tatsächlich umgesetzt sind.
Vorwürfe von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, wonach die Türkei Syrer ins Kriegsgebiet abschiebe, wies Davutoglu vehement zurück. «Ich will hier betonen, dass keine einzige Person gegen ihren Willen nach Syrien zurückgeschickt worden ist. Das machen wir nicht.»
Klare Worte von Merkel erwartet
Kritiker fordern, dass Merkel ihren Gastgeber mit unbequemen Fragen nach der Lage der Menschenrechte sowie der Meinungs- und Pressefreiheit konfrontieren soll. Nach Kenntnis der Bundesregierung befinden sich in der Türkei momentan 29 Journalisten in Haft oder Untersuchungshaft.
Die Reise von Merkel gleicht einem diplomatischen Drahtseilakt: Einerseits muss Merkel Ankara beim Flüchtlingsabkommen bei der Stange halten, andererseits werden in Deutschland von ihr klare Worte zu den kontroversen Themen Menschenrechte und Meinungsfreiheit erwartet.
Hintergrund ist die Kontroverse um das Gedicht des Satirikers Jan Böhmermann über Erdogan. Ankara hatte eine Strafverfolgung Böhmermanns wegen Beleidigung ausländischer Staatschefs verlangt. Gegen den Widerstand des Koalitionspartners SPD erteilte Merkel die dazu nötige Ermächtigung. (gr/SDA)