In erster Linie geht es dem EU-Rat bei seinem Gipfeltreffen am Donnerstag und Freitag um Migration, Sicherheit und Verteidigung sowie Wirtschaft und Finanzen. Doch in seiner Einladung spricht Ratspräsident Donald Tusk (61) auch den beispiellosen Eklat mit US-Präsident Donald Trump (72) nach dem G7-Gipfel in Kanada an: «Ich fürchte, die Unstimmigkeiten gehen über den Handel hinaus», schrieb Tusk vor dem Treffen an die Staats- und Regierungschefs. «Wir sollten für den Ernstfall gerüstet sein.» Was er darunter versteht, bleibt offen.
Es sind allesamt grosse Fragen, welche die Staats- und Regierungschefs der 28 EU-Länder diskutieren und lösen wollen – wenn immer möglich im Konsens. Doch über die grossen Punkte sind sich Merkel, Macron und Co längst nicht einig.
Das sind die Themen und Positionen beim EU-Gipfel
Migration
Die 28 EU-Staats- und Regierungschefs widmen sich vor allem einer Frage: Wie umgehen mit den Flüchtlingen, die nach Europa drängen?
Angela Merkel (63) droht eine Regierungskrise in Deutschland. Sie will verhindern, dass Menschen zum Beispiel in Italien Asyl beantragen, dann jedoch weiter nach Deutschland reisen. Doch für bilaterale Rücknahmeabkommen braucht sie eine europäische Lösung.
Rückendeckung bekommt sie dabei von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (40), der bereits versprach, in Frankreich registrierte Flüchtlinge aus Deutschland zurückzunehmen, sowie von Spaniens neuem linken Ministerpräsidenten Pedro Sánchez (46).
Sánchez fordert, um das Problem der nach Europa strebenden Flüchtlinge zu lösen, müsse die Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitländern der Migranten ausgebaut werden. «Wir brauchen eine gemeinsame europäische Antwort auf die Migration.»
Doch das Drama um das Rettungsschiff Lifeline hat gezeigt, dass Italiens neuer Regierungschef Giuseppe Conte (53) ernst macht; Rettungsboote mit Flüchtlingen dürfen nicht mehr anlegen, die Rücknahme weitergereister Migranten lehnt Italien ab. Das Dublin-Verfahren will er am liebsten ganz abschaffen. Stattdessen sollen Abkommen mit Herkunftsländern und sogenannte Schutzzentren in Transitländern helfen, die illegale Einwanderung nach Europa zu reduzieren. Das gefällt US-Präsident Donald Trump, der Conte am 30. Juli im Weissen Haus empfangen will.
Der österreichische Kanzler Sebastian Kurz (31) strebt ebenfalls eine grundlegende Wende in der EU-Asylpolitik an. Das Mandat der EU-Grenzschutzagentur Frontex müsse so geändert werden, «dass ein Grenzschutz-Einsatz von Polizisten und Soldaten künftig möglich ist», fordert Österreich. Das Ziel sei ein wirksamer Schutz der EU-Aussengrenzen. Kurz setzt sich ebenfalls für den Bau von Asylzentren ausserhalb Europas ein.
Polen, Ungarn, die Slowakei und Tschechien pochen auf eine harte Linie gegenüber Flüchtlingen und boykottierten bereits den EU-Sondergipfel zur Asylpolitik am vergangenen Sonntag. Unwahrscheinlich, dass sie sich beim EU-Gipfel offener zeigen werden.
Ratspräsident Donald Tusk aus Polen – einem Land, das auch nicht für die freundliche Aufnahme von Flüchtlingen bekannt ist – kritisierte einen Tag vor dem Gipfelstart radikale Positionen und warnte vor den erstarkenden Populisten in Europa: «Immer mehr Menschen glauben, dass nur eine harte, anti-europäische und anti-liberale Gewalt die illegale Migration aufhalten kann. Wenn Menschen ihnen das glauben, glauben sie ihnen auch alles andere. Es steht viel auf dem Spiel.»
Weil das Migrationsthema so konfliktträchtig ist, werden am Donnerstagnachmittag zunächst alle anderen, weniger kontroversen Tagesordnungspunkte abgearbeitet. Erst beim Abendessen geht es um die europäische Asyl- und Migrationspolitik. Angela Merkel hat für die Gespräche wenig Hoffnung: Sie sagte bereits, sie rechne für das gesamte Asylpaket nicht mit einer Lösung bis Freitag.
Sicherheit und Verteidigung
Vor dem Nato-Gipfel im Juli wollen die Staats- und Regierungschefs die Zusammenarbeit der besonders an Sicherheit und Verteidigung interessierten Länder besprechen. Durch den Abbau bürokratischer Hürden könnte auch der Traum einer «Europaarmee» – seit jeher ein grosser Wunsch von Deutschland, Frankreich und den Benelux-Staaten – ein Stückchen näher rücken.
Wirtschaft und Finanzen
Neben Gesprächen zur Vermeidung von Steuerhinterziehung wird Handel ein grosses Thema sein. Da sind sich die Staats- und Regierungschefs ziemlich einig: Voraussichtlich werden sie sich zum Freihandel bekennen und als Reaktion auf die US-Strafzölle auf europäische Stahl- und Aluminiumerzeugnisse – die auch massive Auswirkungen auf die Schweiz haben – ihre volle Unterstützung für die Ausgleichsmassnahmen geben, die möglichen Schutzmassnahmen und die Gerichtsverfahren vor der Welthandelsorganisation (WTO) zum Ausdruck bringen.
Die EU streitet über den Umgang mit Flüchtlingen. BLICK zeigt anhand von Daten, wie schlimm die globale Flüchtlingskrise ist. Und wie die Welt, Europa und die Schweiz damit umgehen. Hier lesen Sie weiter.
Die EU streitet über den Umgang mit Flüchtlingen. BLICK zeigt anhand von Daten, wie schlimm die globale Flüchtlingskrise ist. Und wie die Welt, Europa und die Schweiz damit umgehen. Hier lesen Sie weiter.
Innovation und Digitalisierung
Im Mai sprach der EU-Rat bereits bei einem inoffiziellen Dinner in Sofia (Bulgarien) über Innovation und Digitalisierung. Darauf wird er nun voraussichtlich aufbauen und die notwendige Forschung betonen, um in Europa neue Produkte, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle zu entwickeln.
Der Rat könnte die EU-Kommission auffordern, Innovation innerhalb des Forschungsprogramms «Horizon 2020» stärker zu fördern. An dem ist die Schweiz seit Anfang 2017 vollständig beteiligt.
Aussenbeziehungen
Der von russischen Raketen abgeschossene Flug MH17 beschäftigt die Staats- und Regierungschefs. Voraussichtlich wird der Rat die russische Regierung auffordern, Verantwortung zu übernehmen und bei der Aufklärung des Unglücks zu helfen.
Angela Merkel und Emmanuel Macron werden während des Dinners über die Entwicklungen der Gespräche zwischen Russland, Ukraine, Deutschland und Frankreich informieren – das «Normandie-Quartett» berät sich halb offiziell auf Regierungs- und Aussenministerebene zu Fragen des Ukraine-Konflikts.
Darüber hinaus sind die zunehmenden Spannungen mit US-Präsident Donald Trump Thema. Trumps aggressive «America first»-Strategie belastet die Beziehung zur EU schwer.
Brexit
Der EU-Rat wird am Freitag ohne Grossbritannien über den aktuellen Stand der Brexit-Verhandlungen sprechen. Die britische Premierminister Theresa May (61) hält vorsorglich die Füsse still: Sie will erst nach dem EU-Gipfel ein Positionspapier mit detaillierten Vorschlägen für die künftigen Beziehungen zur EU nach dem Brexit vorlegen.
Die EU-Unterhändler haben die Fortschritte bei den Verhandlungen wiederholt als unzureichend kritisiert und gewarnt, die Zeit für eine gütliche Trennung ohne grosse Verwerfungen etwa in den Handelsbeziehungen werde knapp. Die Briten wollen die EU im März 2019 verlassen.
Währungsunion
Ebenfalls ohne Grossbritannien diskutieren die Staats- und Regierungschefs zur Reform der Wirtschafts- und Währungsunion.
Hier haben sich Angela Merkel und Emmanuel Macron bei einem deutsch-französischen Gipfeltreffen am 19. Juni bereits auf eine Linie verständigt. Dazu gehört vor allem das Bekenntnis zur Bankenunion. Mit ihr sollen Banken im gesamten Euro-Währungsgebiet gezwungen werden, sich an dieselben Regeln zu halten.
Zudem wird der Rat voraussichtlich das erfolgreiche Ende des dritten und letzten Griechenland-Rettungspakets verkünden.