Einsamkeit. Das ist gerade Kai Karvinens grösstes Problem. Und das ist eine gute Nachricht.
Wäre der 65-Jährige ein Amerikaner, dann wäre er jetzt vielleicht schon tot. In den USA hat sich das Coronavirus in Obdachlosenunterkünften rasend schnell ausgebreitet. In New York ist das Risiko für Obdachlose, an einer Covid-19-Erkrankung zu sterben, im Vergleich zum Durchschnitt der Bevölkerung mehr als anderthalbmal so hoch.
In Europa kämpfen Obdachlose in der Corona-Krise mit ausbleibenden Spenden und Hilfsangeboten. Wer jeden Tag neu auf der Strasse überleben muss, hat ein Problem, wenn die Strassen über Wochen leer bleiben, kein Kleingeld in den Becher klimpert, Essensausgaben schliessen.
Die eigene Wohnung schafft die Grundlage
Der obdachlose Karvinen hat, so seltsam das in seiner Situation klingt, Glück qua Geburt. Er ist Finne. Und sein Heimatland hat 2008 ein so einzigartiges wie radikales Experiment gestartet.
«Um Menschen aus der Obdachlosigkeit herauszuholen, musst du langfristige Lösungen und dauerhafte Unterkünfte bereitstellen. Eine eigene Mietwohnung schafft eine Grundlage für ihren Lebensunterhalt, und sie ermöglicht es auch, andere Probleme, die diese Personen haben, wirklich zu lösen», sagt Juha Kaakinen, Geschäftsführer der Y-Stiftung. Die Stiftung kauft in Mehrfamilienhäusern Einzimmerwohnungen und vermietet sie an Langzeit-Obdachlose.
«Housing First» heisst Finnlands radikale Lösung
Zehn Sommer lang war Kai Karvinen auf der Strasse. Und auch sonst an vielen Orten. «Im Gefängnis, in Obdachlosenunterkünften, in der Klinik», zählt der Alkoholiker auf.
Jetzt lebt er seit zweieinhalb Jahren hier: ein Haus mitten in Helsinki, vier Stockwerke, 27 Männer, eine Frau.
«Housing First» heisst das nationale Gesetz in Finnland, das jedem Obdachlosen über die Y-Stiftung eine eigene Wohnung zugesteht. Ihre Gesundheit, ihre Probleme: egal.
In Wohnblock D, Zimmer 105 folgen Karvinens Tage einer klaren Struktur. Zuerst kocht er einen Tee. Dann macht er sich Gedanken, welcher Tag gerade ist. Wenn er am Vortag getrunken hat, putzt er als Erstes. Karvinen mag es nicht schmutzig.
«Zu ‹Freunden› musst du Alkohol mitbringen»
Die neue finnische Regierung, die seit vergangenem Dezember im Amt ist, will Obdachlosigkeit im Land bis 2027 endgültig beenden. 4600 Menschen ohne festen Wohnsitz gibt es aktuell noch – 70 Prozent davon leben temporär mit Familie oder Freunden.
«Zu ‹Freunden› musst du immer Alkohol mitbringen, wenn du da schläfst», sagt Karvinen. Er ist stolz auf seinen eigenen Platz: einen gemütlichen braunen Ledersessel, eine Zimmerpflanze, das Insulin für seine Diabetes griffbereit. Einen Tag in der Woche kocht Karvinen Kaffee in einem Tagescafé für andere ehemalige Obdachlose.
Um soziale Segregation und die Entstehung von Slums zu verhindern, sind die einzelnen Wohnungen in gewöhnlichen Wohngebäuden über die ganze Stadt verteilt. 5000 Obdachlose haben bislang von der Y-Stiftung einen Mietvertrag erhalten.
Karvinen ist sehr glücklich in seiner Einzimmerwohnung. «Ich kann sie sauber halten, es ist sicher.» Er wisse immer, wo er sei. An einem Platz, an dem er leben könne, bis er sterbe.