Experte zum Verfassungs-Referendum in der Türkei
Bei Erdogan-Sieg ist der ganze Nahe Osten in Gefahr

Ein Ja zu mehr Macht für Erdogan hätte nicht nur für die Türkei selber verheerende Folgen. Nahost-Experte Abdel Mottaleb El-Husseini befürchtet, dass der ganze arabische Raum in Flammen aufgehen könnte.
Publiziert: 23.03.2017 um 18:13 Uhr
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Aktualisiert: 04.10.2018 um 23:00 Uhr
Anschlag am 17. Februar im türkischen Viransehir: Die Spirale der Gewalt könnte sich verstärken.
Foto: imago/Depo Photos

Der 16. April ist für die Türkei ein Schicksalstag. Die Türken stimmen über eine Verfassungsreform ab, die Präsident Recep Tayyip Erdogan praktisch uneingeschränkte Macht übertragen würde.

Sieht schwarz: Nahost-Experte Abdel Mottaleb El-Husseini.

Bei einem Ja müsste die kurdische Minderheit im Land darunter leiden. Der aus dem Libanon stammende deutsche Nahost-Experte Abdel Mottaleb El-Husseini sagt auf «Focus.de»: «Mit seinen erweiterten Möglichkeiten und im Glauben, die Türken stehen hinter ihm, wird Erdogan alle Bestrebungen der Kurden nach Autonomie und Rechten zu Grabe tragen.»

Die Folge könnte eine Spirale der Gewalt in der Türkei sein: Auf mehr Repression durch Ankara folgt mehr Terror durch kurdische Splittergruppen.

Doch mit mehr Macht könnte Erdogan sogar den ganzen arabischen Raum destabilisieren!

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan will mehr Macht.
Foto: REUTERS

Im arabischen Raum dominieren die sunnitischen Golfstaaten und der schiitische Iran. Die Türkei war früher ein wichtiger Stabilitätsanker zwischen diesen Kräften. Das ändere sich, erklärt Husseini: «Der türkische Präsident will ein sunnitisches Bündnis, also mit Katar, Saudi-Arabien und Jordanien – und selbst sein Führer werden.»

Deshalb verfolge Erdogan eine konfrontative und keine auf Frieden ausgerichtete Aussenpolitik. Mit gestärktem Rücken könnte sich Erdogan in der internationalen Rangordnung neu positionieren, um auf Augenhöhe mit dem Westen aufzutreten.

Der Anschlag von kurdischen Extremisten am 17. Februar in Viransehir forderte zwei Tote.
Foto: AFP

Iran würde das nicht akzeptieren. Husseini prophezeit daher Krieg in der ganzen Region, wenn sich nur ein Beteiligter zu Aggressionen entschliesse.

Husseini befürchtet, dass Erdogan die Stabilität in seinem Land, aber auch in der ganzen Region aufs Spiel setzt. Der Nahost-Experte  auf «Focus.de»: «In seinem Bestreben droht er, die Region in Flammen zu setzen.» (gf)

Darüber stimmen die Türken heute ab

Die Regierungspartei AKP um Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan (63) bringt ihre umstrittene Verfassungsreform vor das Volk. Konkret: Das Parlamentssystem der Türkei soll in ein Präsidialregime umgewandelt werden. Kommt die Vorlage durch, wird Erdogan nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef sein. Erdogan könnte Minister nach eigener Lust und Laune ernennen, das Parlament auflösen und bei der Besetzung der Gerichte mitreden. Gleiches gilt auch für Rektoren an den Universitäten.

Kommt das Referendum durch, könnte die Regierung auch nicht mehr mittels eines Misstrauensvotums abgesetzt werden. Gesetzesvorhaben des Parlaments liessen sich mit einem simplen Veto blockieren. Nach Angaben der AKP sollen die Bestimmungen das Land stabilisieren – die Opposition fürchtet hingegen eine Diktatur.

Die Regierungspartei AKP um Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan (63) bringt ihre umstrittene Verfassungsreform vor das Volk. Konkret: Das Parlamentssystem der Türkei soll in ein Präsidialregime umgewandelt werden. Kommt die Vorlage durch, wird Erdogan nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef sein. Erdogan könnte Minister nach eigener Lust und Laune ernennen, das Parlament auflösen und bei der Besetzung der Gerichte mitreden. Gleiches gilt auch für Rektoren an den Universitäten.

Kommt das Referendum durch, könnte die Regierung auch nicht mehr mittels eines Misstrauensvotums abgesetzt werden. Gesetzesvorhaben des Parlaments liessen sich mit einem simplen Veto blockieren. Nach Angaben der AKP sollen die Bestimmungen das Land stabilisieren – die Opposition fürchtet hingegen eine Diktatur.

Das würde sich bei einer Annahme des Referendums ändern
  1. Erdogan wird Staats- und Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten und der Ministerrat werden als eigenständige Organe abgeschafft.
     
  2. Der Präsident darf neu einer Partei angehören und dieser vorsitzen.
     
  3. Der Präsident darf seine Stellvertreter selbst wählen und ernennt Minister ohne Parlamentsanhörung. Auch bestimmt der Präsident über die Universitätsrektoren mit.
     
  4. Gegen Stellvertreter und Minister sind nur Untersuchungen zugelassen, sie können nicht per Misstrauensvotum abgesetzt werden.
     
  5. Der Präsident kann (ähnlich wie in den USA) direkte Präsidialverordnungen (Dekrete) erlassen. Das Parlament muss den Dekreten nicht mehr zustimmen. Per Dekret kann der Präsident Ministerien abschaffen, errichten oder umorganisieren.
     
  6. Die Wahlen für Parlament und Präsident werden neu alle fünf Jahre am gleichen Tag erfolgen. Das erste Mal am 3. November 2019. Die Zahl der Parlamentssitze wird von 550 auf 600 erhöht. Parlamentarische Anfragen gibts es nur noch schriftlich an Vizepräsidenten und Minister. Diese müssen innert 15 Tagen antworten.
     
  7. Der Präsident kann das Parlament zu jeder Zeit auflösen, dann müssen gleichzeitig Neuwahlen für Parlament und Präsident stattfinden. Wenn das Parlament den Präsidenten absetzen will, hat dies auch Neuwahlen im Parlament zur Folge.
     
  8. Die Amtsperioden des Präsidenten bleiben auf zwei beschränkt. Die Zählung der Amtszeiten würde unter dem neuen System aber neu beginnen. Das heisst, Erdogan könnte theoretisch bis 2029 weiterregieren, wenn er gewählt wird.
     
  9. Der Präsident kann weiterhin Gesetzesvorhaben des Parlaments mit einem Veto blockieren. Das Veto kann vom Parlament mit einer Mehrheit der Gesamtzahl der Mitglieder überstimmt werden.
     
  10. Der Präsident kann neu im Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte vier der 13 Mitglieder bestimmen.
     
  11. Das passive Wahlrecht wird von 25 auf 18 Jahre herabgesetzt. (Das passive Wahlrecht ist das Recht, sich bei einer Wahl als Kandidat aufstellen zu lassen) Menschen mit Bezug zum Militär dürfen nicht mehr für die Wahl aufgestellt werden.
     
  12. Militärgerichte werden abgeschafft, ausser um Delikte von Soldaten zu Kriegszeiten zu untersuchen.

Unterschiede zu den USA

Im Gegensatz zum US-System fehlen sogenannte «Checks and Balances», also Organe, die als Gegengewicht zum Präsidenten fungieren. Ausserdem legt in den USA der Kongress das Staatsbudget fest, in der Türkei würde nach der Reform der Präsident darüber verfügen. In den USA haben zudem die Einzelstaaten noch mehr zu sagen. Der türkische Präsident hätte bei einem Ja zur Reform weitreichendere Freiheiten und mehr Macht im eigenen Land als der US-Präsident.

  1. Erdogan wird Staats- und Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten und der Ministerrat werden als eigenständige Organe abgeschafft.
     
  2. Der Präsident darf neu einer Partei angehören und dieser vorsitzen.
     
  3. Der Präsident darf seine Stellvertreter selbst wählen und ernennt Minister ohne Parlamentsanhörung. Auch bestimmt der Präsident über die Universitätsrektoren mit.
     
  4. Gegen Stellvertreter und Minister sind nur Untersuchungen zugelassen, sie können nicht per Misstrauensvotum abgesetzt werden.
     
  5. Der Präsident kann (ähnlich wie in den USA) direkte Präsidialverordnungen (Dekrete) erlassen. Das Parlament muss den Dekreten nicht mehr zustimmen. Per Dekret kann der Präsident Ministerien abschaffen, errichten oder umorganisieren.
     
  6. Die Wahlen für Parlament und Präsident werden neu alle fünf Jahre am gleichen Tag erfolgen. Das erste Mal am 3. November 2019. Die Zahl der Parlamentssitze wird von 550 auf 600 erhöht. Parlamentarische Anfragen gibts es nur noch schriftlich an Vizepräsidenten und Minister. Diese müssen innert 15 Tagen antworten.
     
  7. Der Präsident kann das Parlament zu jeder Zeit auflösen, dann müssen gleichzeitig Neuwahlen für Parlament und Präsident stattfinden. Wenn das Parlament den Präsidenten absetzen will, hat dies auch Neuwahlen im Parlament zur Folge.
     
  8. Die Amtsperioden des Präsidenten bleiben auf zwei beschränkt. Die Zählung der Amtszeiten würde unter dem neuen System aber neu beginnen. Das heisst, Erdogan könnte theoretisch bis 2029 weiterregieren, wenn er gewählt wird.
     
  9. Der Präsident kann weiterhin Gesetzesvorhaben des Parlaments mit einem Veto blockieren. Das Veto kann vom Parlament mit einer Mehrheit der Gesamtzahl der Mitglieder überstimmt werden.
     
  10. Der Präsident kann neu im Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte vier der 13 Mitglieder bestimmen.
     
  11. Das passive Wahlrecht wird von 25 auf 18 Jahre herabgesetzt. (Das passive Wahlrecht ist das Recht, sich bei einer Wahl als Kandidat aufstellen zu lassen) Menschen mit Bezug zum Militär dürfen nicht mehr für die Wahl aufgestellt werden.
     
  12. Militärgerichte werden abgeschafft, ausser um Delikte von Soldaten zu Kriegszeiten zu untersuchen.

Unterschiede zu den USA

Im Gegensatz zum US-System fehlen sogenannte «Checks and Balances», also Organe, die als Gegengewicht zum Präsidenten fungieren. Ausserdem legt in den USA der Kongress das Staatsbudget fest, in der Türkei würde nach der Reform der Präsident darüber verfügen. In den USA haben zudem die Einzelstaaten noch mehr zu sagen. Der türkische Präsident hätte bei einem Ja zur Reform weitreichendere Freiheiten und mehr Macht im eigenen Land als der US-Präsident.

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