Als Bundespräsident Ignazio Cassis (60) am Donnerstag die Reaktion der Schweiz auf den Einmarsch Russlands in die Ukraine erklärte, tauschten die Journalisten im Medienzentrum verwirrte Blicke aus. Was genau hatte der Bundesrat beschlossen? Wie geht die Schweiz mit russischen Geldern und Handelsbeziehungen um? Klar wurde das nicht.
Und die Journalisten waren nicht als einzige verwirrt. Auch alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey (76) hatte «einige Mühe» zu verstehen. «Bundespräsident Cassis hat von Verschärfungen der geltenden Regeln gesprochen», sagte sie in der Talksendung «Hier fragt der Chef» auf Blick TV im Gespräch mit Christian Dorer (46). «Aber wo es Verschärfungen geben soll, habe ich nicht verstanden», erklärte sie dem Chefredaktor der Blick-Gruppe.
Dieses vage ist nicht im Sinn von Calmy-Rey. Sie sprach sich dafür aus, schärfere Massnahmen zu ergreifen: «Ich würde harte Sanktionen aussprechen, denn die Verletzung des Völkerrechts ist ebenfalls hart. Sonst haben wir keine Glaubwürdigkeit mehr auf der internationalen Bühne.» So gewinne man den Eindruck, die Schweiz habe Angst.
Vor drei Tagen hielt sie Invasion für unmöglich
Dass man nach der Annexion der Krim auf Sanktionen verzichtet habe, sei 2014 richtig gewesen. Die Schweiz habe damals mit der Präsidentschaft der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) eine Vermittlerrolle gehabt. Doch heute sei es anders: «Es geht um die Verletzung der territorialen Integrität eines Staates. Welchen Grund sollten wir haben, das zu begrüssen? Nein, wir müssen das sanktionieren.»
Die Neutralität der Schweiz spreche nicht dagegen, im Gegenteil, so die frühere Aussenministerin: «Das ist der Kern der Neutralität: der Verzicht auf Gewalt für politische Mittel.»
Calmy-Rey sagte, noch vor drei Tagen habe sie eine russische Invasion für unmöglich gehalten. Doch die Abschreckungsstrategie des Westens sei gescheitert. Der Westen habe auch auf Putins Forderung, dass die Nato-Osterweiterung rückgängig gemacht werde, nicht reagiert. Dabei habe Putin immer klargemacht, dass sich Russland davon bedroht fühle, das westliche Militärbündnis Nato an den eigenen Grenzen zu haben. Der Westen habe keine Antwort gegeben.
«Man dachte, er würde sich mit einem kleinen Stück der Ukraine, dem Donbass, zufriedengeben», Alarmsignale habe man ignoriert, so Calmy-Rey. Nun sei der Westen nur noch Zuschauer. Sie ist überzeugt: Man wird Putin nicht stoppen können, bis er zufrieden ist und der Westen seine Anliegen ernst nimmt. «Die grosse Frage ist: Wird er mit der Ukraine zufrieden sein oder wird er weiter gehen?»