Umfragen hatten bei den Europawahlen vom Wochenende einen Rechtsrutsch vorausgesagt. Dass das Beben aber so massiv ausfallen würde, damit hatte man nicht gerechnet: Der französische Präsident Emmanuel Macron (46) ruft nach dem Sieg von Marine Le Pens (55) und Jordan Bardellas (28) Rassemblement national (RN) Neuwahlen aus, und der belgische Ministerpräsident Alexander De Croo (48) tritt zurück.
Auch in Italien und Österreich werden die Rechtsparteien stärkste Kraft, während in Deutschland die AfD trotz ihrer Skandale auf Platz zwei die Ampelregierung ins Wanken bringt.
Zwar ist nach wie vor die bürgerliche Europäische Volkspartei (EVP) mit Chef Manfred Weber (51) die grösste Fraktion im EU-Parlament. Doch ein Grossteil der europäischen Musik wird nicht im EU-Parlament, sondern in den einzelnen Ländern gespielt. Und da braut sich etwas zusammen, das auf verschiedene Themen grosse Auswirkungen haben dürfte.
Die Bilanz der Wahlen
Für Jonathan B. Slapin, Professor für politische Institutionen und europäische Politik an der Universität Zürich, ist das Bedeutendste bei den Wahlen der Sieg des französischen Rassemblement national, das doppelt so viele Stimmen wie Macrons Parteienbündnis geholt hat.
Ebenfalls auffällig und ein Zeichen der Stärke der Rechten sei, dass die italienische Ministerpräsidentin Giorigia Meloni (47) mit ihren Fratelli d’Italia sehr gut abgeschnitten habe. Slapin: «Das ist überraschend, weil sie schon zwei Jahre an der Macht ist und Regierungsparteien in der Regel nach dieser Zeit verlieren.»
Zu beachten ist, dass die europäischen Rechtsparteien nicht einheitlich unterwegs sind. So gibt es zum Beispiel Differenzen bei der Sympathie zu Russland. Wegen ihrer Nazi- und Spionage-Skandale ist die AfD zudem aus der rechtspopulistischen EU-Fraktion Identität und Demokratie geworfen worden, womit der Einfluss der deutschen Rechten in Brüssel schwindet.
Der Ukraine-Krieg
Die EU-Wahlen haben einen grossen Gewinner und einen grossen Verlierer: den russischen Präsidenten Wladimir Putin (71) auf der einen und den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski (46) auf der andern Seite. Putin wird sich im Kreml die Hände reiben, denn einige der rechten Parteien Europas wie die deutsche AfD, die österreichische FPÖ, die ungarische Fidesz und teilweise auch das französische RN sympathisieren offen mit Moskau und bezeichnen die Ukraine sogar als die wahre Kriegstreiberin.
Auch wenn es bei diesem Thema unter den Rechten einen Graben gibt und die Fratelli d’Italia und die polnische PiS klar hinter Kiew stehen, dürfte sich das Wahlresultat bremsend auf die Unterstützung der Ukraine auswirken – nicht nur im waffentechnischen Bereich, sondern auch bei den EU-Beitrittsverhandlungen. Eine schwindende Unterstützung wäre für die Ukraine eine Katastrophe, vor allem dann, wenn am 5. November Donald Trump (77) neuer Präsident werden und die Hilfe aus den USA versiegen sollte.
Die Migration
Vor einem Monat hat die EU ein Gesetz beschlossen, das härter gegen die Migration vorgeht. Mit den aufkommenden rechten Kräften darf man davon ausgehen, dass dieses Gesetz knallhart umgesetzt wird. Heisst: schnelle Asylverfahren, möglichst viele Abweisungen an der EU-Aussengrenze, konsequente Rückführungen, Verstärkung der EU-Grenzpolizei Frontex.
Es ist auch damit zu rechnen, dass Staaten dem Vorbild Italien folgen und ihre Aufnahmezentren auslagern werden. Ministerpräsidentin Meloni hat mit Albanien einen Deal unterzeichnet. Er sieht vor, dass Italien einen Teil der Asylprüfungen und die Festhaltung von Migranten in Albanien durchführt.
Das Klima
Galten die EU-Wahlen von 2019 noch als Klimawahlen, ist das Interesse am brennenden Thema Klima merklich abgekühlt. Vor allem bei den Jungen gilt inzwischen die Migration in Umfragen klar als wichtigstes Thema.
Viele Klimaregeln, die schon aufgegleist worden sind, dürften zwar durchgezogen werden. Bei einem Punkt allerdings muss man eine Korrektur erwarten: So dürfte das vom EU-Parlament beschlossene Verbrenner-Verbot ab 2035 wohl aufgehoben werden.
In einem Interview mit Blick sprach EVP-Chef Manfred Weber von einem «schweren politischen Fehler von der linken Mehrheit des Parlaments». Er kündigte an, es bei einer neuen rechten Mehrheit rückgängig zu machen, weil er bis 2035 mit der Entwicklung von CO2-neutralen Kraftstoffen rechne.
Die Schweiz
Mit ihrer Eigenständigkeit und ihrer Basisdemokratie gefällt die Schweiz vielen Rechtsparteien. Für die deutsche AfD gilt sie sogar als Vorbild. EU-Länder, die unter verstärktem rechten Einfluss selbst auf mehr Eigenständigkeit innerhalb der EU pochen werden, dürften mehr Verständnis für den Sonderfall Schweiz zeigen. Auf der andern Seite kann gerade das verstärkte nationalistische Denken, das die europäischen rechten Parteien spaltet, auch zu mehr Konfrontationen führen.
Für Jonathan B. Slapin ist für die Zusammenarbeit Schweiz–EU mitentscheidend, wer zum EU-Kommissionspräsidenten gewählt wird. Setzt sich die bisherige EVP-Vertreterin Ursula von der Leyen (65) durch, dürfte sich seiner Meinung nach für die Schweiz nicht viel ändern. «Wenn es einen neuen Präsidenten oder eine neue Präsidentin gibt, könnte es – ja nach Person – aber auch schwierig werden», meint Slapin.