Der «Spiegel» bricht ein Tabu in Deutschland. Siegestrunkene Nazis 1941 vor der griechischen Akropolis, darin eingeklebt eine Angela Merkel aus dem Jahre 2015, dazu die Schlagzeile «The German Übermacht» – im Heft-Innern dann der Titel «Das Vierte Reich». Eine in zweifacher Hinsicht ungeheuerliche Schlagzeile. Die Metapher vom Vierten Reich befeuert Ängste von neuen Grossmachtsfantasien Deutschlands zu Beginn des 21. Jahrhunderts und stellt eine historische Analogie her zu den drei vorangegangenen. Zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, als deutschstämmige Kaiser vom Mittelalter bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts weite Teile Europas beherrscht haben. Zum Wilhelminischen Kaiserreich zwischen 1871, dem Ende des Deutsch-französischen Krieges und dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918. Zum Dritten Reich zwischen 1933 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945. Eine unheimliche, fast ununterbrochene Addition von Herrschaft und Krieg in und über Europa und immer mittendrin, meist federführend, deutsche Herrscher.
Und jetzt also das Vierte Reich. Deutschland als imperiale ökonomische Macht, eine Volkswirtschaft, die zu Beginn des Jahrtausends dank der «Agenda 2010» unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder sich wettbewerbsfähig getrimmt hat wie kein zweites Land auf dem alten Kontinent. Eine Nation auch, die dank Wiedervereinigung und Euro den strukturschwachen südeuropäischen EU-Partnern davongaloppiert ist. Deren Volkswirtschaften aber als Absatzmärkte nutzt, weil der Euro Griechenland, Italien oder Spanien niedrige Zinsen und damit einen Konsumboom beschert hat. Während heute im Süden ökonomische Tristesse und Massenarbeitslosigkeit herrscht, ist Deutschland zum globalen Exportweltmeister aufgestiegen: «Seit der Jahrtausendwende», schreibt der «Spiegel», «hat sich der deutsche Exportüberschuss nahezu vervierfacht, auf rund 217 Milliarden Euro – allein gegenüber Frankreich betrug er 2014 über 30 Milliarden Euro.»
Nachvollziehbar, dass den anderen in Europa diese Vormachtstellung den Angstschweiss auf die Stirne treibt – vor allem seit das politisch-ökonomische Gegengewicht Frankreich schwächelt. Und so bahnt sich der Frust in Europa eine Schneise. Angela Merkel mit Hitler-Bärtchen als Graffiti in Athen. Als «Heil Angela» und der Schlagzeile «Viertes Reich» auf dem Cover der italienischen Tageszeitung «Il Giornale», die der Berlusconi-Familie gehört. Selbst der britische «Economist» zeigt Merkel als Säulenheilige, während der Eiffelturm einknickt, die Akropolis versinkt: «One woman to rule them all.» Und die griechische Tageszeitung «Dimokratia» steckt die Bundeskanzlerin gar direkt und pietätlos in eine Nazi-Uniform. Die Griechen haben mit einer derartigen Verunglimpfung der deutschen Regierungschefin kein Problem, seit die EU-Granden rund um Angela Merkel dem darnieder liegenden Land einen scharfen Sparkurs und eine konsequente Austeritätspolitik verordnet haben. Die moralische Legitimation holen sich viele Hellenen in der Geschichte und in der Schuld der Deutschen während des Zweiten Weltkriegs. Da gibt es die Kriegsverbrechen der Nazis in griechischen Dörfern, deren Hinterbliebene nie entschädigt worden sind, und die Zwangskredite, welche die NS-Besatzer der griechischen Notenbank abgepresst haben und von der Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin des Dritten Reiches nie zurückgezahlt worden sind.
Ist diese direkte Analogie von überwundenem Drittem zu einem fiktiven Vierten Reich jenseits aller Animositäten statthaft? Ist es nicht. Sie beruht auf einem Missverständnis der neuen Rolle Deutschlands in Europa und der Welt, die Angela Merkel repräsentiert. Helmut Kohl, ihr Vorvorgänger im Amt, gehört noch zur Kriegsgeneration, welche die Wiedervereinigung des Heimatlandes als Lebensaufgabe begriffen hatte. Während der Pfälzer Deutschland in Europa aufgehen lassen wollte, ist sich Merkel bewusst: die Nachkriegsgeschichte ist mit der Wiedervereinigung abgeschlossen. Nun geht es um den Platz Deutschlands in der Welt.
Darum ging es Berlin noch immer in der Geschichte bis in die Neuzeit hinein. Der Befund, dem sich das Land dabei unterzuordnen hatte, ist immer der gleiche geblieben: Die deutsche Nation ist zur Grossmacht zu klein und für Einflusslosigkeit zu gross. Deshalb geht es nicht um ein Viertes Reich, sondern um die Frage: Wie viel Deutschland erträgt Europa, um gegen die USA und China zu bestehen?