Die Gespräche würden scheitern, wenn die EU ihre Position vor allem beim Knackpunkt Fischereirechte nicht «wesentlich» verändere, zitierten britische Medien am Sonntag Regierungskreise in London. Es werde wahrscheinlicher, dass kein Abkommen gelinge. Dennoch sollen die Verhandlungen auch am Montag weitergehen.
EU-Unterhändler Michel Barnier sprach am Sonntagnachmittag von einem «entscheidenden Moment». Die EU wolle weiter ein faires, auf Gegenseitigkeit bedachtes und ausgewogenes Abkommen. «Wir respektieren die Souveränität des Vereinigten Königreichs, und wir erwarten dasselbe», schrieb Barnier auf Twitter. Beide Seiten müssten eigene Gesetze erlassen und eigene Gewässer kontrollieren können. «Und wir sollten beide handeln können, wenn unsere Interessen auf dem Spiel stehen.»
Am Sonntagabend hiess es aus britischen Regierungskreisen: «Die Verhandlungen bleiben schwierig, und es gibt weiterhin deutliche Unterschiede.» Doch werde erwartet, dass die Verhandlungen an diesem Montag weitergehen. Das bestätigte auch die EU-Kommission.
Dabei hatte das Europaparlament eine letzte Frist bis Sonntagabend um Mitternacht gesetzt. Bis dahin müsse ein fertiger Handelsvertrag vorliegen, weil die Abgeordneten sonst nicht mehr ausreichend Zeit zur Prüfung hätten. In London hiess es hingegen, der einzige Stichtag sei der 31. Dezember.
Zentraler Streitpunkt waren immer noch die künftigen Fangrechte von EU-Fischern in britischen Gewässern. Grossbritannien habe ein Kompromissangebot der EU zurückgewiesen, erfuhr die Deutsche Presse-Agentur aus Verhandlungskreisen. Die EU-Küstenstaaten seien jedoch nicht bereit, noch weiter zu gehen. Darüber hinaus gebe es immer noch sehr umstrittene Punkte beim Thema gleiche Wettbewerbsbedingungen, hiess es weiter.
Beobachter fühlen sich an das Lied der deutschen Techno-Band Scooter erinnert: «How much is the fish?» - wie teuer ist der Fisch? Dabei ist der Industriezweig vergleichsweise klein: Das Münchner Ifo-Institut schätzt den Gesamtwert der EU-Fangmengen in britischen Gewässern auf etwa 520 Millionen Euro - ein Bruchteil des Handelsvolumens in Höhe von mehreren Hundert Milliarden Euro.
Doch die Fischerei ist längst auf beiden Seiten - und im Staatenbund vor allem in Frankreich, das auf knapp ein Drittel des EU-Anteils kommt - zu einer hochpolitischer Frage geworden. «Wir können keinen Deal akzeptieren, der uns nicht die Kontrolle über unsere eigenen Gesetze oder Gewässer lässt», hiess es dazu in London. Premierminister Boris Johnson räumt dem Thema zentrale Bedeutung ein. Schliesslich gilt die britische Fischerei als eine wichtige Antriebskraft des Brexits - auch wenn der EU-Markt 80 Prozent ihres Exports aufnimmt.
Das Ifo Institut betonte: «Auch deutsche Fischer wären betroffen, da sie über die Hälfte ihrer Fänge in britischen Gewässern tätigten.» Die Ökonomen schlugen vor, bei Verzicht auf Fischereirechte in britischen Gewässern die EU-Branche für ihre Verluste zu kompensieren. Denn bei einem Scheitern der Gespräche drohe ein deutlich höherer finanzieller Verlust.
Grossbritannien ist Ende Januar 2020 aus der EU ausgetreten, ist aber in einer Übergangsphase bis Jahresende noch im EU-Binnenmarkt und der Zollunion. Kommt kein Handelsvertrag zustande, treten am 1. Januar 2021 an Zölle und andere Handelshemmnisse in Kraft. Das wäre ein harter Schlag für die Wirtschaft.
Der Brexit ähnele einem schrecklichen Adventskalender, schrieb Experte Fabian Zuleeg vom European Policy Centre in Brüssel auf Twitter. «Neue unlösbare Probleme warten hinter jedem Türchen.» Nur seien die Probleme dieselben wie immer.
Wegen der schleppenden Verhandlungen laufen auf beiden Seiten Vorbereitungen für einen No Deal. Doch dem Brexit-Ausschuss des britischen Parlaments gehen die Planungen der Regierung längst nicht weit genug. Entscheidungen seien «zu spät» getroffen worden, die Kommunikation mit Unternehmen sei «bestenfalls lückenhaft», hiess es in einem am Samstag veröffentlichten Bericht. Am Freitag hatte das Europaparlament für Notfallmassnahmen gestimmt, die bei einem No-Deal-Brexits Flug- und Strassenverkehr sowie Fischerei zumindest teilweise für einige Monate sichern sollen.
Die Ungewissheit über den Ausgang des Brexit-Dramas sorgt bereits für ein Verkehrschaos. Vor dem britischen Hafen Dover am Ärmelkanal sowie vor dem Eurotunnel stauten sich auch am Wochenende Lastwagen kilometerweit. Viele Häfen sind bereits wegen des Weihnachtsgeschäfts und Lieferungen medizinischer Gütern in der Corona-Pandemie überlastet.
(SDA)