EU-Austritt zieht sich in die Länge
Steht der Brexit kurz vor dem No-Deal?

Es ist nicht vorbei, bis es vorbei ist. Dieser Spruch gilt auch für den Brexit. Auch nach viereinhalb Jahren geht die Diskussion um den EU-Austritt der Briten weiter und zerrt an den Nerven Tausender Unternehmer und Arbeitnehmer, die ein wirtschaftliches Chaos fürchten.
Publiziert: 15.10.2020 um 09:06 Uhr
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Aktualisiert: 07.12.2020 um 09:52 Uhr
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Der britische Premier Boris Johnson hatte mit dem Rückzug vom Verhandlungstisch gedroht, falls bis 15. Oktober kein Kompromiss mit der EU gefunden ist.
Foto: keystone-sda.ch

Zwar hält sich der britische Premierminister Boris Johnson offen, den Verhandlungstisch zu verlassen und das anvisierte Handelsabkommen mit der Europäischen Union platzen zu lassen. Das bekräftigte er am Mittwochabend nach einem Telefonat mit EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Ratschef Charles Michel. Brüssel erwartet aber trotzdem, dass die Arbeit an dem Pakt weiter geht. An diesem Donnerstag berät der EU-Gipfel den Stand der Dinge.

Halten beide Seiten eine Einigung noch für möglich?

Die Stimmung schwankt, aber noch gibt es Hoffnung. Während Johnson bislang versprach, dass Grossbritannien auch ohne Einigung eine «fantastische Zukunft» bevorstehe, betont er nun, dass London und Brüssel von einem Handelspakt profitieren könnten. Staatsminister Michael Gove bezifferte die Erfolgsaussichten für einen Deal auf 66 Prozent. Auf EU-Seite heisst es ebenfalls: Noch geht etwas. «Ein Abkommen liegt im Interesse aller», sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel. In Brüssel sind jedoch viele aufgeschreckt, seit Johnson mit seinem Binnenmarktgesetz versucht, Sonderregeln für Nordirland im bereits gültigen Brexit-Abkommen auszuhebeln. London nennt das Gesetz ein «Sicherheitsnetz», Brüssel spricht von Vertragsbruch. Misstrauen trübt nun die Verhandlungen über das neue Abkommen.

Worüber wird eigentlich verhandelt?

Ein Handelspakt soll die Beziehungen nach der wirtschaftlichen Trennung neu regeln. Grossbritannien hat die EU zwar schon im Januar verlassen, ist aber bis Jahresende noch im Binnenmarkt und in der Zollunion. Der Vertrag soll Zölle verhindern und den Handel so störungsfrei wie möglich halten.

Etliche weitere Themen werden mit verhandelt, darunter polizeiliche Zusammenarbeit, Datenschutz, Klimaschutz, Sozialversicherungsfragen, Aufenthaltsrechte und vieles mehr. Ein mehrere Hundert Seiten starkes Abkommen soll zum 1. Januar 2021 in Kraft treten - eigentlich. Doch zweieinhalb Monate vor dem Stichtag steht der Vertragstext noch nicht. Man habe zwar Fortschritte in vielen Punkten gemacht, aber eben noch nicht in den entscheidenden, heisst es auf beiden Seiten.

Bei welchen Themen haperts?

Es gibt drei Knackpunkte:

  1. Da ist zum einen der Zugang für EU-Fischer zu britischen Gewässern – für die EU-Küstenstaaten wie Frankreich ist das ein ebenso emotionales Thema wie für Grossbritannien, das endlich alleine über seine reichen Fischgründe bestimmen will.

  2. Zweiter zentraler Punkt ist das sogenannte Level Playing Field: Die EU will im Gegenzug für zollfreien Zugang zum Binnenmarkt gleiche Umwelt-, Sozial- und Beihilfestandards als Schutz vor Dumping. Doch Grossbritannien will sich von der EU nicht mehr reinreden lassen.

  3. Das gilt auch für Punkt drei, die sogenannte Governance: Die EU verlangt ein zuverlässiges Schlichtungsinstrument für den Fall, dass eine Seite vom Vertrag abweicht. Damit beisst sie in London auf Granit.

Welche Rolle spielt Boris Johnson bei den Verhandlungen?

Johnson war über weite Strecken kaum präsent, allenfalls in wortgewaltigen Reden von London aus. Kritiker werfen ihm vor, ein Grossmaul und schlechter Krisen-Manager zu sein, der beim Brexit – ebenso wie bei der Bekämpfung der Corona-Krise – einen Schlingerkurs fahre. Johnson will nach dem am Freitag zu Ende gehenden EU-Gipfel entscheiden, ob London die Verhandlungen abbricht. Nach seinem Telefonat mit Michel und von der Leyen liess der Premier erklären, ein Deal sei zwar «wünschenswert», doch sei er enttäuscht über die langsamen Fortschritte. Johnson freue sich darauf, von den Ergebnissen des für Donnerstag und Freitag geplanten EU-Gipfels zu erfahren, und werde vor den nächsten Schritten Grossbritanniens nachdenken.

Johnson hatte mit dem Rückzug vom Verhandlungstisch gedroht, falls bis 15. Oktober kein Kompromiss mit der EU gefunden ist – also bis zu diesem Donnerstag. Von einer Übereinkunft ist man jedoch weit entfernt.

Von der Leyen und Michel gaben sich ungerührt. «Die EU arbeitet an einem Deal, aber nicht zu jedem Preis», twitterte die Kommissionschefin. Alles wie gehabt. Beim Gipfel dürfte es im Kreis der 27 EU-Staaten darum gehen, welche Spielräume bleiben.

Wer wären die Verlierer bei einem No-Deal?

Wohl die meisten. Die Auswirkungen für Grossbritannien dürften Prognosen zufolge erheblich sein: Zölle und weitere Handelshemmnisse würden eingeführt, Tausende Lastwagen könnten sich wegen der Grenzkontrollen im Raum Dover stauen, Regale in Supermärkten und Apotheken leer sein - dies wäre wohl das Letzte, was das von der Pandemie getroffene Vereinigte Königreich gebrauchen könnte. Auch die EU-Staaten würden gebeutelt. Zehntausende Jobs seien in Gefahr, warnte der Bundesverband der Deutschen Industrie erst am Mittwoch gemeinsam mit Wirtschaftsverbänden in Frankreich und Italien. In Deutschland sorgt sich vor allem die angeschlagene Autobranche. In Grossbritannien drohen zusätzlich innenpolitische Verwerfungen: Schottlands Bestreben nach Unabhängigkeit könnte noch grösser werden und die Oppositionspartei Labour punkten. (SDA)

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