Sie hat Geschichte geschrieben. Die Sozialdemokratin Einat Kalisch-Rotem (49) ist nicht nur die erste Bürgermeisterin einer Grossstadt in Israel, sondern kam auch mit ungewöhnlicher Unterstützung ins Amt: die der ultraorthodoxen Partei Degel Hatora (Banner der Tora). Während das politisch festgefahrene Israel auf die dritte Neuwahl in diesem Jahr zusteuert, zeigt Kalisch-Rotem, wie es auch gehen kann. BLICK trifft die ungewöhnliche Politikerin in Zürich.
BLICK: Sie sind eine linke Politikerin, aber die Ultraorthodoxen haben Sie bei der Wahl unterstützt. Wie haben Sie das geschafft?
Einat Kalisch-Rotem: Ich habe alle Parteien an den Tisch geholt und Stellvertreter bei den extremen Rechten wie bei den Arabern. Und klar: Die hassen sich untereinander. Ministerpräsident Netanyahu rief mich nach der Wahl an und bat mich, das nicht zu machen. Er wollte, dass ich seine Likud-Partei in die Koalition hole. Ich sagte Nein, denn ich bin stolz darauf, als Erste die Araber-Partei in die Koalition geholt zu haben. Während wir hier in Zürich sitzen, trifft sich zu Hause der Stadtrat. Das wird auf jeden Fall provokativ ablaufen.
Aber auf welcher Basis arbeiten Sie denn dann zusammen?
Den Muslimen und den ultraorthodoxen Juden ist zum Beispiel Bildung wichtig – dass sie als Minderheiten Zugang zu guten Schulen haben. Haifa ist eine komplexe Stadt, und ich möchte Rücksicht auf die Minderheiten nehmen, ihnen nicht meinen Kurs aufdrücken.
Und die Strenggläubigen akzeptieren Sie als Frau?
Die Ultraorthodoxen haben die Erlaubnis von allen grossen Rabbis bekommen, neben mir zu sitzen und mit mir zu arbeiten. Während der Kampagne bin ich mal zu einem Fest von ihnen gefahren, wo Männer und Frauen eigentlich in getrennten Räumen feiern. Aber als ich ankam, umkreisten mich diese Männer einfach und tanzen um mich herum. Wir haben eine sehr gute Beziehung.
Würde Ihre Methode überall in Israel funktionieren?
Ich glaube schon, dass wir viel besser dran wären, wenn wir so eine Koalition auch national hinbekommen würden. Aber Haifa ist schon was Besonderes, deutlich liberaler als andere Städte. Die Nanny meines Sohnes war zum Beispiel Muslima. Ich wusste, dass meine Koalition hier funktionieren kann – darum habe ich Netanyahu auch eine Absage erteilt.
Sie haben Städtebau an der ETH studiert. Wird Haifa künftig schweizerischer?
Auf jeden Fall. Ich habe mit zwei Kleinkindern in Zürich gelebt, das ist eine der prägendsten Erfahrungen, die ich in Sachen «Stadtleben» machen konnte. Vorher habe ich Städte nur theoretisch angeguckt – in Zürich habe ich begriffen, wie eine Stadt tatsächlich funktionieren muss. Es ist so einfach, hier zu leben.
Im Gegensatz zu Israel?
Ja. Die Städte sind schlecht organisiert und für Autonutzer konzipiert. Eher amerikanisch als europäisch. Das wollte ich ändern – als Aktivistin und Architektin. Aber da konnte ich nicht genug bewirken, also bin ich Politikerin geworden.
Was würden Sie sofort aus der Schweiz importieren?
Oh, den öffentlichen Verkehr, keine Frage. Der ist der Wahnsinn.
In Ihrer Kampagne war Nachhaltigkeit das grosse Thema. Wie wichtig ist Klimaschutz in Israel?
Die Leute sind verrückt nach Autos. Auch eine Klimastreikbewegung gibt es nicht so richtig. Wir haben zwar eine grüne Partei, aber politisch geht es um andere Sachen.
Sehen wir bis zum 11. Dezember eine neue Regierung in Israel?
Ich habe wirklich keine Ahnung.
Was ist das Problem?
Ein grosser Vertrauensverlust. Neuwahlen werden daran auch nichts ändern. Die politischen Lager stecken alle fest. Wenn die Parteien nur den Mut hätten, es wie Haifa zu machen ... aber gut, vielleicht scheiterte ich mit meiner Koalition ja auch.
Woran denn?
Die einzige Stadt in Israel, die in den letzten Jahrzehnten stärker und grösser geworden ist, ist Tel Aviv. Haifa hingegen wird schwächer. Wer die Möglichkeiten, die Bildung und das Geld hat, zieht weg. Und die Regierung nimmt Haifa überhaupt nicht wahr. Ich fürchte, ich scheitere, wenn ich das nicht ändere.
Und wenn Sie Erfolg haben, werden Sie Ministerpräsidentin?
Ich habe keine Lust auf die Knesset. Ich will lieber Haifa nach vorne bringen.
Wird die Anklage gegen Netanyahu die politische Landschaft in Israel verändern?
Das weiss niemand. Als Bürgermeisterin bin ich nicht so drin in der nationalen Politik.
Geht das denn – sich davon fernzuhalten?
Jeder sollte seine Grenzen kennen. Ich bin keine Parlamentsabgeordnete, meine Kompetenzen hören an der Stadtgrenze auf.
Sie haben den schwarzen Gürtel in Karate, trainieren mindestens dreimal in der Woche. Ihr Ausgleich, wenn Ihnen alles über den Kopf wächst?
Karate beruhigt mich, führt mich zu meiner Mitte. Ich lerne meine Schwächen und meine Stärken kennen. Politische Streitereien sind eigentlich wie Karatekämpfe: Hinterher musst du reflektieren und dir überlegen, wie du besser reagierst.
Härter zurückschlagen?
Das ist das Schlimmste, was du machen kannst. Besser ist es, zu verstehen, was passiert ist – und seine Position zu verbessern. Das mache ich so im Stadtrat.
Wer würde in einem Karateduell gewinnen: Sie oder der Bürgermeister von Ramallah?
Macht er denn Karate? Ich will nicht mit ihm kämpfen. Bei Karate geht es darum, Leute wissen zu lassen, dass du da bist, um eine Lösung zu finden. Aber wenn jemand mich oder meine Stadt schlägt, schlage ich zurück.
Israel steuert auf die dritte Neuwahl in diesem Jahr zu. Die Frist für eine Regierungsbildung endet am 11. Dezember um Mitternacht. Bereits nach der Wahl im Frühjahr hat es Ministerpräsident Benjamin Netanyahu (70) nicht geschafft, sich eine Mehrheit in der Knesset zu beschaffen. Im September gingen die Israelis erneut an die Urne. Überschattet werden die Koalitionsverhandlungen von einer Anklage gegen Netanyahu wegen Betrug und Bestechlichkeit. Es ist das erste Mal in der Geschichte Israels, dass ein amtierender Ministerpräsident angeklagt wird. Trotzdem will Netanyahu, dass die Bürger des Landes ihren Ministerpräsidenten direkt wählen. Wegen der politischen Pattsituation in Israel hat der Rechtskonservative nun eine Stichwahl zwischen ihm und seinem Herausforderer Benny Gantz (60) vom Mitte-Bündnis Blau-Weiss gefordert. Das schrieb er am Samstagabend auf Facebook. Blau-Weiss hält den Vorstoss Netanyahus für ein Täuschungsmanöver, das nur von den Korruptionsvorwürfen ablenken soll, und lehnte den Vorschlag entschieden ab.
Israel steuert auf die dritte Neuwahl in diesem Jahr zu. Die Frist für eine Regierungsbildung endet am 11. Dezember um Mitternacht. Bereits nach der Wahl im Frühjahr hat es Ministerpräsident Benjamin Netanyahu (70) nicht geschafft, sich eine Mehrheit in der Knesset zu beschaffen. Im September gingen die Israelis erneut an die Urne. Überschattet werden die Koalitionsverhandlungen von einer Anklage gegen Netanyahu wegen Betrug und Bestechlichkeit. Es ist das erste Mal in der Geschichte Israels, dass ein amtierender Ministerpräsident angeklagt wird. Trotzdem will Netanyahu, dass die Bürger des Landes ihren Ministerpräsidenten direkt wählen. Wegen der politischen Pattsituation in Israel hat der Rechtskonservative nun eine Stichwahl zwischen ihm und seinem Herausforderer Benny Gantz (60) vom Mitte-Bündnis Blau-Weiss gefordert. Das schrieb er am Samstagabend auf Facebook. Blau-Weiss hält den Vorstoss Netanyahus für ein Täuschungsmanöver, das nur von den Korruptionsvorwürfen ablenken soll, und lehnte den Vorschlag entschieden ab.