Die ganze Welt sieht im August 2014, was drei Jahre zuvor im Boccia-Club einer Gaststätte in Wängi TG geschah. Ein von der italienischen Polizei veröffentlichtes Video zeigt 15 Männer an einem langen Holztisch. Giuseppe B.* (76) ergreift das Wort. Wie ein Pate spricht der Süditaliener von Ehre, Respekt, Tradition und von der «Allerheiligsten Mutter». Es ist der Jargon der 'Ndrangheta. Giuseppe B. tauft neue Mitglieder, befördert ältere auf höhere Ränge. Alle stammen sie aus dem kalabrischen Mafianest Fabrizia.
Dann kommt der Wortführer zur Sache: «Verkauft mehr Drogen, Kokain, Heroin, alles». Er könne jeden Tag gut 20 Kilo liefern. Was die Runde damals nicht ahnt: Das Hinterzimmer ist verwanzt. Eine versteckte Kamera filmt alles mit. Seit 2010 haben die prominenten Mafia-Jäger Nicola Gratteri und Antonio de Bernardo die «Frauenfelder Zelle» im Visier. Mithilfe der Schweizer Behörden gelingt es ihnen, die verdächtigen Männer 2011 in der sogenannten «Operation Helvetia» zu bespitzeln.
«Es kann keine Verbindung zur Mafia bewiesen werden»
Endlich schnappt die Falle zu. Die 15 Männer werden nach und nach verhaftet, in Italien vor Gericht gestellt und in der ersten Instanz zu hohen Haftstrafen zwischen 8 und 13 Jahren verurteilt. Die «Frauenfelder Zelle» scheint aufgelöst. Doch es kommt ganz anders.
Der Mann, der in der Lauschaktion, seine Landsleute zum Drogenhandel aufforderte und sein Vize werden 2019 in zweiter Instanz freigesprochen. Vergangenes Jahr folgen Freisprüche für weitere drei Angeklagte. Seit Mittwoch nun sind auch die restlichen Mafia-Verdächtigen aus dem Kanton Thurgau reingewaschen.
Es gäbe keine Verbindung zur Mafia, sagt der Richter in seiner Urteilsbegründung. Bei dem Treffen im Hinterzimmer der Thurgauer Gaststätte sei es nicht zu für kriminelle Organisationen typische Erpressungs- oder Einschüchterungsversuche gekommen. Weder seien die Herren Mafiosi, noch habe es je eine Frauenfelder Zelle der `Ndrangheta gegeben. Sieben Jahre Ermittlungsarbeit sind nun Schall und Rauch.
«Die Mafia ist mittlerweile aktiver im Ausland als in Italien»
Das empört Klaus Davi (55). Der Schweizer Mafia-Jäger und Journalist nennt den Freispruch eine kalte Dusche. «Trotz allem Respekt vor dem Kassationsgericht, das Urteil verstört mich. Die Ermittlungen in Italien und in der Schweiz erschienen mir doch ausgesprochen aufwendig und überzeugend und die Anstrengungen der Staatsanwaltschaft von Reggio Calabria war beeindruckend», sagt Davi gegenüber Blick. Die Bilder und belauschten Gespräche widersprächen der Auffassung des Gerichts, dass es keine Mafia-Zelle in Frauenfeld gegeben habe.
Mafia-Experte Klaus Davi warnt: «Die 'Ndrangheta ist mittlerweile aktiver im Ausland, zum Beispiel in der Schweiz, in Deutschland, Kanada oder Australien, als in ihrer Heimat». Der ehemalige Staatsanwalt und einstiger Mafia-Jäger Paolo Bernasconi weiss um die Schwierigkeit des Rechtssystems: «Die reine Mitgliedschaft an einer kriminellen Organisation ist zwar strafbar, aber es ist extrem schwer, diese zu beweisen. Das ist das Problem der italienischen Gerichte.» Dennoch, so Bernasconi zu Blick, allein die Ermittlungen, die Veröffentlichungen und die Prozesse, egal wie die Urteile am Ende ausfallen, schwächen die Mafia.
Das Kapitel «Frauenfelder Zelle» ist noch nicht ganz zugeschlagen. Eine Chance haben die Staatsanwälte noch. Mit einer Einsprache kommt die «Operation Helvetia» noch vor die dritte richterliche Instanz. Die letzte.
* Name geändert