Die Briten hoffen auf den Befreiungsschlag. Am heutigen Donnerstag wählen sie ein neues Parlament. Es soll sie aus dem Brexit-Chaos führen – und die Fronten klären: Bekommt Boris Johnson (55) mit seinen Tories eine satte Mehrheit, könnte er seinen Brexit-Deal durchs Parlament bringen und das Land am 31. Januar 2020 aus der EU zu führen. Siegt die Opposition unter Labour-Chef Jeremy Corbyn (70), könnte es zu einem zweiten Brexit-Referendum kommen.
Die Wahllokale sind von 8 Uhr (MEZ) bis 23 Uhr (MEZ) geöffnet. Unmittelbar danach wird eine Prognose im Auftrag der Fernsehsender BBC, ITV und Sky News veröffentlicht. Bei vier von fünf Wahlen seit der Jahrtausendwende lagen die Prognosen grundsätzlich richtig.
Sollte das Rennen sehr knapp ausgehen, könnte es sein, dass bis zur Auszählung eines Grossteils der Stimmen keine Klarheit herrscht. Die Auszählung dürfte sich bis in die Morgenstunden hinziehen. Mit einem offiziellen Endergebnis ist erst im Laufe des Freitags zu rechnen.
1. Bleibt Johnson Premierminister?
Die Umfragen zeigen, dass der Regierungschef mit seinen Konservativen in den grossen Städten verliert. «Die Frage ist, ob die Tories auf dem Land genug gewinnen», sagt Jamie Angus, Direktor der BBC World Service Group, zu BLICK. «Viele Abgeordnetensitze werden die Partei wechseln.»
Aktuell sieht es zwar so aus, als würden die Tories die stärkste Partei werden, allerdings fehlen den Konservativen mögliche Koalitionspartner, sollten sie die absolute Mehrheit verfehlen. Mit der nordirischen DUP hat es sich Johnson im Brexit-Streit verscherzt.
2. Wie hoch sind die Chancen von Johnson-Konkurrent Jeremy Corbyn?
Der Altlinke hat mit seiner Labour-Partei in den letzten Umfragen vor der Wahl gewaltig aufgeholt. Wahlforscher gehen nur noch von einem Vorsprung von 28 Mandaten für die Konservativen aus.
Für eine Mehrheit müsste Corbyn allerdings auf die Unterstützung kleinerer Parteien hoffen. Zum Beispiel auf die der Schottischen Nationalpartei SNP. Doch das hätte seinen Preis. Denn SNP-Parteichefin Nicola Sturgeon (49) fordert ein baldiges Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands.
Auch die Liberaldemokraten könnten Zünglein an der Waage spielen. Ihr Ziel ist es, den Brexit abzuwenden. Daher wäre eine Zusammenarbeit mit Johnsons Tories nur schwer vorstellbar – mit Labour schon eher.
3. Welche Wählergruppe entscheidet die Wahl?
Möglicherweise die Jungwähler. Insbesondere Erstwähler, die beim Brexit-Referendum 2016 noch nicht mitentscheiden durften. Bereits bei der letzten Parlamentswahl 2017 verhalfen die Jungen den Linken zu neuer Stärke: Mehr als 60 Prozent der Wähler zwischen 18 und 29 stimmten für die Labour-Partei.
Viel spricht dafür, dass die Jungen die Wahl entscheiden könnten. Zwischen dem 22. Oktober und dem 19. November 2019 registrierten sich laut offiziellen Angaben mehr als 1,5 Millionen Menschen unter 34 für die Wahl – im selben Zeitrahmen waren es 2017 nur 1,2 Millionen. Allein am 26. November, dem letztmöglichen Registrierungstag, schrieben sich weitere 452'000 Wähler jünger als 34 Jahre ein.
4. Was passiert, wenn Corbyn gewinnt?
Labour-Chef Jeremy Corbyn will ein eigenes Brexit-Abkommen aushandeln und es den Briten danach in einem zweiten Referendum vorlegen.
5. Welche Rolle spielt Russland?
Fake News, russische Hackerangriffe und Desinformation überschatten die Briten-Wahl. Aktuell beschuldigen sich Labour und die Tories gegenseitig, jeweils die Lieblingskinder des Kremls zu sein. Beide Seiten haben Interesse an einer Annäherung zu Russland: Corbyn aus Ablehnung der USA, Johnson aus wirtschaftlichen Gründen.
Die Plattform «openDemocracy» hat aufgedeckt, dass die Konservativen in den vergangenen Monaten hohe Geldsummen von russischen Spendern erhalten haben. Für Stirnrunzeln sorgte ausserdem Boris Johnsons Weigerung, einen brisanten Parlamentsbericht zur russischen Einmischung in die britische Politik – insbesondere beim Brexit-Referendum 2016 – vor den Wahlen zu veröffentlichen.
Der staatliche Sender BBC kämpft insbesondere gegen Fake News. «Wir mussten unsere 'Fact-Checking'-Abteilung ausbauen», sagt Jamie Angus, Direktor der BBC World Service Group, zu BLICK. «Alle Parteien erzählen Dinge, die nicht stimmen. Aber die Anzahl ist deutlich gestiegen.»
6. Wie funktioniert die Briten-Wahl?
Das britische Mehrheitswahlrecht kennt nur Direktmandate. Ins Parlament ziehen die Kandidaten mit den jeweils meisten Stimmen in einem der 650 Wahlkreise ein, egal wie knapp ihr Sieg war. Die Stimmen für unterlegene Kandidaten verfallen. Das macht es sehr schwer, aus landesweiten Umfrageergebnissen auf die mögliche Sitzverteilung im Parlament zu schliessen. Zudem ist das Rennen zwischen Kandidaten der Labour-Partei und den Konservativen in Dutzenden Wahlkreisen denkbar eng.
Von den 650 Wahlkreisen in Grossbritannien liegen 533 in England, 59 in Schottland, 40 in Wales und 18 in Nordirland. Theoretisch liegt die Mehrheit bei 326 Sitzen. Weil aber der Parlamentspräsident und seine Stellvertreter nicht abstimmen und die nordirisch-katholische Partei Sinn Fein ihre Sitze traditionell nicht einnimmt, liegt die Mehrheit faktisch bei etwa 320 Mandaten.
7. Welche Rolle spielt die Queen?
Bei klaren Mehrheitsverhältnissen beauftragt Königin Elizabeth II. (93) den Wahlsieger mit der Bildung einer Regierung. Sollte es zu einem «hung parliament» (weder Labour noch Konservative erreichen eine absolute Mehrheit der Mandate) kommen, müssen zuvor Verhandlungen über eine Koalition oder die Duldung einer Minderheitsregierung stattfinden.