Über Verstorbene solle man nur Gutes berichten, sagte einer der sieben Weisen des antiken Griechenlands. John McCain (†81) erlag am Samstagnachmittag seinem Krebsleiden. Denke ich nun an das von Schicksalsschlägen überschattete Leben des schillernden US-Politikers zurück, so regt sich reflexartig mein Gewissen.
Eigentlich sollte ich den Durchhaltewillen McCains als damals jungen, über Vietnam abgeschossenen und fünfeinhalb Jahre in brutaler Gefangenschaft gehaltenen Offizier würdigen – und auch McCains unglaubliche Tapferkeit in der letzten Lebensphase. Schon schwer leidend reiste er für wichtige Abstimmungen bis kurz vor dem Todestag noch von Arizona nach Washington. Und, obgleich Republikaner, profilierte er sich als Senator zu einem Gegenspieler des ebenfalls republikanischen US-Präsidenten Trump – und wurde zur Stimme der Vernunft in seiner Partei.
Zahlreiche Widersprüche im politischen Wirken
Betrachtet man jedoch das politische Wirken McCains über längere Frist, ergibt sich eine von Widersprüchen durchzogene Bilanz. In den 80er-Jahren folgte er völlig unkritisch der Linie von Präsident Ronald Reagan, auch hinsichtlich der illegalen Kriegsunterstützung der Contra-Rebellen in Nicaragua. Den chilenischen Diktator Pinochet respektierte er, einen Gedenktag für den Menschenrechtsaktivisten Martin Luther King lehnte er ab.
2003 gehörte er zu den entschlossensten Befürwortern des von George W. Bush provozierten, verheerenden Irak-Kriegs. In Opposition zu Bush trat er dann aber beim Thema Folter. Die Bush-Administration liess Folter von Irak-Gefangenen und Terrorverdächtigen zu, auch das als Waterboarding bezeichnete Fast-Ertränken bei Verhören.
2008 mit Sarah Palin im Präsidentschaftsrennen
Voll von Widersprüchen war er auch bei vielen inneramerikanischen Themen. Die Erzkonservativen am rechten Rand des Spektrums der Republikaner, politisierende Evangelikale und Leute der reaktionären Tea Party, kritisierte er jahrelang hart. Aber: Als er 2008 als US-Präsidentschaftskandidat antrat, scheute er sich nicht, die vielleicht Radikalste der Tea Party, Sarah Palin, zur Vizekandidatin zu nominieren. In Umweltfragen und teils auch bei sozialen Themen war McCain generell progressiv eingestellt – was ihn allerdings nicht hinderte, Obamas Gesundheitsreform hart zu bekämpfen. So wie er, da lag er lange auf der Linie Trumps, so ziemlich alles zunichtemachen wollte, was Obama zustande gebracht hatte.
Militärmann von Geburt an
Sucht man in diesem von Gegensätzen geprägten Leben nach einer Kontinuität, stösst man auf den Glauben an die USA als weltweite militärische «Ordnungsmacht». Verständlich wird das aufgrund der familiären Herkunft: Vater und Grossvater waren Admirale der US Navy. John McCain wurde auf einer Militärbasis in der Panamakanalzone geboren und studierte an der Naval Academy in Annapolis bei Washington. Er wurde Pilot bei der Marine – und er wäre höchst wahrscheinlich noch für weitere Jahre beim Militär geblieben, hätte das Schicksal ihm nicht einen anderen Lebensweg aufgezwungen.
Erich Gysling (81) war unter anderem Leiter der «Rundschau», Leiter Auslandressorts und Chefredaktor des Schweizer Fernsehens. Der Zürcher ist heute als freier Journalist und Kommentator tätig und gilt als profunder Kenner des Weltgeschehens. Gisling hat mehrere Bücher über die internationale Politik geschrieben, unter anderem über den Nahen Osten.