Vor Gericht macht Niels Högel (41) am Dienstag das Horror-Geständnis: Er hat von Februar 2000 bis Juni 2005 an den Kliniken Oldenburg und Delmenhorst im deutschen Bundesland Niedersachsen 100 Patienten umgebracht. Die Zahl seiner Opfer könnte noch viel höher sein: Die Ermittler identifizierten insgesamt 322 potenzielle Opfer. Nur lassen sich zahlreiche der vermuteten Morde nicht beweisen, weil die Verstorbenen in vielen Fällen kremiert wurden.
Es ist die wohl grösste Mordserie der deutschen Nachkriegsgeschichte. Unter grossem Medien- und Besucherinteresse hat am frühen Dienstagmorgen der Einlass für den Prozess gegen den bereits wegen fünf Taten verurteilten Patientenmörder begonnen. «Wir haben vier Jahre für diesen Prozess gekämpft und erwarten, dass Högel wegen weiterer 100 Morde verurteilt wird», sagt Christian Marbach, der Sprecher der Angehörigen, dessen Grossvater von Högel getötet wurde.
«Ziel ist, dass er so lange wie möglich in Haft bleibt»
Högel hat bereits eine lebenslange Haft. Daran wird auch der neue Prozess nichts ändern. Eine lebenslange Haftstrafe bedeutet in Deutschland aber nicht zwangsläufig, dass jemand bis zu seinem Tod im Gefängnis sitzt. Nach einer bestimmten Zeit prüft eine Strafvollstreckungskammer, ob die Strafe ausgesetzt werden kann – und dabei spielt es schon eine Rolle, ob jemand fünf oder 100 Morde begangen hat. «Das Ziel ist, dass Högel so lange wie möglich in Haft bleibt», sagt der Angehörige Marbach.
Wegen des grossen Andrangs hat das Landgericht den Mammut-Prozess in die Weser-Ems-Hallen in Oldenburg verlegt. Für die 23 Verhandlungstage verwandeln sich die Festsäle, in denen normalerweise Stars wie Vanessa Mai auftreten und Tagungen, Bankette oder Bälle stattfinden, in einen Gerichtssaal. 120 Nebenkläger wohnen dem Prozess bei. Im Saal sind rund 120 Plätze für Besucher und 80 für Journalisten reserviert. Es wurden starke Sicherheitsvorkehrungen getroffen.
Auf frischer Tat ertappt
Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft spritzte Högel seinen Opfern Medikamente, die tödliche Komplikationen verursachten. Anschliessend versuchte er, die Patienten wiederzubeleben – aus Langeweile, und um Anerkennung von seinen Kollegen zu bekommen. Gerüchte und später auch konkrete Hinweise, dass der Pfleger Patienten tötete, gab es an beiden Arbeitsstellen. Doch erst als eine Kollegin den Pfleger 2005 auf der Delmenhorster Intensivstation auf frischer Tat erwischte, nahmen die Morde ein Ende.
Högel kann sich offenbar nicht einmal mehr an alle Taten erinnern. Im früheren Prozess gestand er einem Gutachter überraschend 30 Morde. Die Staatsanwaltschaft liess auf 67 Friedhöfen 134 Leichen exhumieren, sogar in Polen und in der Türkei. (noo/SDA)