Seit Robert Habeck und Annalena Baerbock 2018 die Parteiführung übernahmen, ging es mit den Grünen bergauf. Im Bundestag die kleinste Fraktion, liegen sie inzwischen mit über 20 Prozent in den nationalen Umfragen solide auf Platz zwei. Den Abstand zu den schwächelnden Christdemokraten von Kanzlerin Angela Merkel haben sie deutlich verkürzt. Nun wollen sie Kurs aufs Kanzleramt nehmen.
Erstmals in ihrer mehr als 40-jährigen Parteigeschichte wollen die Grünen zur Bundestagswahl am 26. September einen Kanzlerkandidaten oder eine Kanzlerkandidatin aufstellen. Wer es werden soll, ob Spitzenmann Habeck (51) oder Spitzenfrau Baerbock (40), wollen sie am kommenden Montag bekannt geben. Und sie geben sich siegesbewusst. Man kämpfe um die Führung der nächsten Bundesregierung, heisst es in einem Schreiben von Grünen-Geschäftsführer Michael Kellner aus der vorigen Woche.
Im Herbst geht es in Deutschland um die Nachfolge Merkels, die nach vier Amtszeiten nicht mehr bei der Bundestagswahl antritt. Doch während in der Christdemokratie ein Machtkampf zwischen CDU-Chef Armin Laschet und dem Chef der bayerischen Schwesterpartei CSU, Markus Söder, um die gemeinsame CDU/CSU-Spitzenkandidatur tobt, lösen die Grünen die «K-Frage» nach Fahrplan. Konkurrenz zu Habeck und Baerbock regt sich keine, und in ihren drei Jahren als Parteichefs haben beide nach aussen grösstmögliche Harmonie ausgestrahlt.
Regierungserfahrung kann nur Habeck vorweisen. Er war in Schleswig-Holstein, wo er herstammt, sechs Jahre Umweltminister. Der studierte Philosoph und Germanist hat auch als Schriftsteller reüssiert und gemeinsam mit seiner Ehefrau Andrea Paluch Romane und Jugendbücher verfasst. Er schreibt auch politische Bücher, wie das jetzt erschienene «Von hier an anders. Eine politische Skizze». Mit den sozialen Medien hatte der Mann aus dem Norden keine so glückliche Hand. Nach einem missglückten Tweet, der ihm Spott und Kritik bescherte, zog er sich 2019 aus Twitter und Facebook zurück.
Baerbock stammt aus Niedersachsen. Sie wuchs in einem Dorf südlich von Hannover in einer Art «Hippiehaushalt» auf und wurde schon als Kind oft zu Anti-Atomkraft- oder Friedensdemonstrationen mitgenommen. Ihr Geburtsjahr 1980 ist das Gründungsjahr der deutschen Grünen. Sie studierte Politik- und Rechtswissenschaften in Hamburg und in London. Im ostdeutschen Bundesland Brandenburg engagierte sie sich später gegen den Braunkohletagebau, und dort wurde sie 2013 auch in den Bundestag gewählt. Die Mutter von zwei Töchtern lebt mit ihrer Familie in Potsdam, zu ihren Hobbys zählt das Trampolinspringen.
Sollten die Grünen künftig Deutschland regieren, dann wollen sie als erstes ein generelles Tempolimit auf den deutschen Autobahnen einführen (130 km/h). In der Wirtschafts- und Sozialpolitik vertreten sie typisch linke Positionen mit höheren Steuern für Gutverdiener, Erleichterungen für Sozialhilfeempfänger und milliardenschweren staatlichen Ausgabenprogrammen. Die deutsche Schuldenbremse, die der Staatsverschuldung enge Grenzen setzt, wollen sie aufweichen und geduldeten Migranten den dauerhaften Aufenthalt im Lande erleichtern. Das Nato-Ziel, die Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukt zu erhöhen, lehnen sie ab.
Endgültig beschlossen werden sollen das Wahlprogramm ebenso wie die Kanzlerkandidatur bei einem Parteitag im Juni. Was die Grünen von ihren Vorstellungen am Ende verwirklichen können, hängt davon ab, mit wem sie regieren würden.
Eine Weile wirkte die CDU/CSU mit Umfragewerten jenseits der 35 Prozent auch für die Nach-Merkel-Ära unschlagbar. Doch die Unzufriedenheit der Wähler mit dem Corona-Krisenmanagement hat ihr eine unsanfte Landung beschert. Mit um die 27 Prozent lag sie zuletzt noch vier bis fünf Punkte vor den Grünen. Das könnte immer noch auf eine schwarz-grüne Koalition unter CDU-Führung hinauslaufen.
Bündnisse ohne die Konservativen sind aber denkbar, wenn sich die Wählerpräferenzen noch etwas verschieben. Eine «Ampel» aus Grünen, Sozialdemokraten und Liberalen käme derzeit auf maximal 48 Prozent, ein grün-rot-rotes Bündnis mit SPD und Linkspartei auf bis zu 46 Prozent. In beiden Verbindungen wären die Grünen stärkste Kraft und hätten damit Anspruch aufs Kanzleramt.
«Die Grünen sprechen insbesondere junge und weibliche Wähler an und setzen dazu auf zwei sympathische Parteichefs, die auch mal über Persönliches sprechen», sagt der Kommunikationsexperte Christian Hoffmann von der Universität Leipzig. Die Partei profitiere auch von der Geschlossenheit ihrer Führungsspitze. Ausserdem gebe es eine «Wechselstimmung» im Land. «Union und SPD wirken abgekämpft. Da bieten die Grünen die Perspektive auf Veränderung ohne einen allzu radikalen Wechsel», sagt Hoffmann.
(SDA)