Enthüllungsbuch über die «Bild»-Zeitung
Ein Land im Bann des «Gartenzaunnazis»

Benjamin von Stuckrad-Barre setzt mit seinem Roman über den Axel Springer-Verlag ganz Berlin unter Strom. Das Buch deutet auf Abgründe der deutschen Seele – und dient dem Autor als Selbstabsolution.
Publiziert: 23.04.2023 um 00:37 Uhr
|
Aktualisiert: 23.04.2023 um 10:01 Uhr
1/5
Julian Reichelt trat 2021 als "Bild"-Chefredaktor ab. Als "Bild"-Chefreporter hatte er auch mehrere Beiträge für den SonntagsBlick verfasst.
Foto: EPA
Bildschirmfoto 2024-04-02 um 08.40.24.png
Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Für die Deutschen ist die «Bild»-Zeitung wie ein schmuddeliges Familienmitglied, das man nicht liebt, aber auch nicht loswerden kann.

Das Blatt ist mit einer Reichweite von knapp acht Millionen Leserinnen und Lesern das grösste Europas – womit sein Chefredaktor als mächtigster Journalist des Kontinents gilt und sein Verlagsgeschäftsführer vielleicht massgebender ist als der Bundeskanzler.

Weil «Bild» bei Themen wie Migration, Asyl oder «Law and Order» knallhart Kante zeigt und somit gegen die recht einheitliche deutsche Mehrheitsmeinung opponiert sowie medienethische Grenzverletzungen millionenfach in Papier und über das Internet verbreitet, ist eine Diskussion über dieses Medium immer auch eine innenpolitische Debatte.

Eng mit dem Springer-Verlag verbandelt

Der am Mittwoch erschienene Roman «Noch wach?» von Benjamin von Stuckrad-Barre (48) liefert nun in konzentrierter Form neuen Stoff für dieses nationale Selbstgespräch.

Offiziell handelt er selbstverständlich nicht von «Bild» und dem Axel-Springer-Verlag, sondern von einem «Sender». Dort gibt es einen «Chefredakteur» und den Big Boss, den «Freund» des Ich-Erzählers. Dabei handelt es sich ziemlich eindeutig um den ehemaligen «Bild»-Chefredaktor Julian Reichelt (42) und Springer-CEO Mathias Döpfner (60). Das Timing ist ein Glücksfall für Autor und Verlag; Reichelt musste 2021 im Zuge von #MeToo wegen Machtmissbrauch und inakzeptablen Umgangs mit Mitarbeiterinnen den Posten räumen. Und von Döpfner veröffentlichte das Konkurrenzblatt «Zeit» soeben Textnachrichten, die den milliardenschweren Hochglanzmanager als populistisch-platten Piefke darstellen («Die Ossis sind entweder Kommunisten oder Faschisten. Dazwischen tun sie es nicht. Eklig»).

Dass die Neuerscheinung von Stuckrad-Barre verfasst wurde, ist pikant – der kahl geschorene Schreiber mit dem adligen Namen kennt das Berliner Axel-Springer-Haus von innen, Döpfner ist Götti seines Sohns, die Kindsmutter Chefredaktorin des Springer-Blattes «B.Z.». In amourösen Belangen soll er, wie es in der Hauptstadt heisst, weiterhin im Grossverlag fischen. Er soll es auch gewesen sein, der damals mit internen Meldungen die Untersuchung gegen Reichelt angestossen hatte.

«Sein nächtliches Weinen ist extrem spooky»

Stuckrad-Barre reiht mit seiner von GROSSBUCHSTABEN durchsetzten Prosa DETAILREICH Anekdoten über die beiden Protagonisten ANEINANDER, er rechnet mit Reichelt und seinem «Freund» Döpfner ab, zeichnet nach, wie Letzterer zu einem EX-FREUND wird. Die Grossbuchstaben-Orgie, diese MAJUSKEL-MANIE könnte auch ein gerissener Anklang an die Boulevardzeitung mit ihren GROSSEN LETTERN sein, schliesslich wird Stuckrad-Barre von seinen Fans als deutscher Bret Easton Ellis, als Wörterwuzzi von der Spree, als BUCHSTABEN-MOZART verehrt.

Über den «Chefredakteur» heisst es, «dieser Typ» habe sich «doch sehr unangenehm radikalisiert mit den Jahren, war direkt proportional dazu immer fetter geworden, und parallel zu seinem Haupthaar fielen auch seine Sicherungen immer schneller und grossflächiger aus», er sei mit seinem «WIR-Gebrülle» eine Art «faselnder Gartenzaunnazi geworden». Und das Publikum erfährt aus erster Hand, von den belästigten Frauen, allerlei Intimes über den gefallenen Überjournalisten («sein nächtliches Weinen ist extrem spooky, ja») und wie er an Sitzungen so mit Kolleginnen umgeht («was seid ihr, ultra-woke Menstruationsmonster, oder was?»). Aber auch Absurdes («Zu mir hat er gesagt, ich mache die nächste Frauke Ludowig aus dir»).

Und immer wieder Harvey Weinstein

Anhand einer Heldin namens Sophia, die sich auf die Avancen des Chefredaktors eingelassen hat, berichtet Stuckrad-Barre über den langen Kampf der Opfer – offiziell «Belastungszeuginnen» genannt – gegen alle gesellschaftlichen und bürokratischen Hindernisse, die in der Firma mit ihrem Konzernsprech und einer «Feelgood-Managerin» lauern, bis hin zum Sieg über den Chef.

Zu diesen Hürden gehört etwa, dass die eingeschaltete Compliance-Anwältin die lüsternen SMS «romantisierte Nachrichten» nennt. Parallel dazu nähern sich Rechercheure der «Transatlantik» dem Fall, was die Sache beschleunigt – unschwer ist darin die «New York Times» zu erkennen, die mit einem Artikel über die Zustände in der Redaktion tatsächlich Reichelts Ende einläutete.

Garniert ist das Ganze mit dem Verlauf des Skandals um Hollywoodproduzent und Sexualstraftäter Harvey Weinstein (71). Und bitterbösen Charakterisierungen von Reichelt und dessen naiv, geradezu machtbesoffen dargestelltem Vorgesetzten Döpfner, der in den USA unbedingt einen Wagen der Angebermarke Hummer fahren möchte und sich erfolglos Elon Musk (51) an den Hals wirft. «Hatte er den Verstand erst verloren und dann geglaubt, ihn in einer Telegram-Chatgruppe wiedergefunden zu haben?», heisst es über den «Freund».

Stuckrad-Barres Sittengemälde des Axel-Springer-Konzerns lässt diese politische Grossmacht als eine Art Mordor der deutschen Publizistik erscheinen.

Reichelt bezichtigt die Kronzeugin der Lüge

Das Buch versucht sich unübersehbar in die grossen Abrechnungen der deutschen Literatur einzureihen. 1984 löste Thomas Bernhard (1931–1989) mit «Holzfällen» in der Wiener Bussi-Bussi-Gesellschaft ein Beben aus. Durch das Protokoll des griesgrämig-genialen Ich-Erzählers von einem «künstlerischen Abendessen» brach der Österreicher mit dem Musikerpaar Lampersberg, das im Roman Auersberger heisst. Die Mutter aller Abrechnungen aber verfasste Klaus Mann (1906–1949) schon 1936 mit «Mephisto». Darin entlarvt er den deutschen Jahrhundert-Schauspieler Gustaf Gründgens (1899–1963) – umbenannt in Hendrik Höfgen – als rückgratlosen Trittbrettfahrer im Dritten Reich.

In beiden berühmten Fällen wehrten sich die Betroffenen mit rechtlichen Mitteln, und dies dürfte wohl auch das Kalkül des Autors von «Noch wach?» sein; Reichelts Anwalt hat bereits entsprechende Andeutungen gemacht. Der geschasste Chef selber bezichtigt in den sozialen Medien die in «Sophia» umgetaufte Kronzeugin der Lüge und weist wesentliche Anschuldigungen von sich.

Eines allerdings unterscheidet Stuckrad-Barre von Klaus Mann: Dieser musste seiner antifaschistischen Haltung wegen aus Deutschland emigrieren, er bekämpfte also das von ihm kritisierte System und zahlte einen hohen Preis dafür.

Eine Freisprechung im eigenen Namen

Von Stuckrad-Barre hingegen hat sich in dem Axel-Springer-Biotop, gegen das er nun vom Leder zieht, jahrelang wohlig eingenistet und angeblich ein Monatsgehalt von 40'000 Euro bezogen. Ein ehemaliger Angestellter des Springer-Verlags – der in der Schweiz mit dem Haus Ringier kooperiert, das auch den SonntagsBlick herausgibt – twitterte diese Woche: «Als jemand, der 2015 bei Springer gearbeitet hat und bei einer mehrtägigen Führungskräftetagung live erleben durfte, wie sehr Stuckrad-Barre es genossen hat, Döpfners Liebling zu sein, muss ich grad sehr die Zähne zusammenbeissen.»

So gesehen ist das Œuvre auch eine pompöse Selbstabsolution, eine Freisprechung im eigenen Namen. Passend dazu lässt Stuckrad-Barre seine Protagonistin Sophia irgendwann sagen: «Wir fackeln diesen ganzen Scheissladen ab.»


Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?