«Die Ambulanzen brausten alle fünf Minuten vorbei»
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«Schüler geraten in Panik»:«Die Ambulanzen brausten alle fünf Minuten vorbei»

Endlich kann Fritz Lingenhag (67), Leiter der Schweizer Schule in Bergamo, wieder schlafen
«Die Ambulanzen brausten alle fünf Minuten vorbei»

Der Berner Fritz Lingenhag hat (67) zurzeit einen einsamen Job: Der Direktor der Schweizer Schule in Bergamo (I) hütet sein leeres Schulhaus und bereitet sich auf die Wiederöffnung vor. Die Corona-Krise hat ihn – aber vor allem auch die Kinder – erschüttert.
Publiziert: 08.05.2020 um 18:49 Uhr
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Aktualisiert: 08.05.2020 um 21:45 Uhr
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«Il direttore» Fritz Lingenhag hält die Stellung: Der Pausenplatz der Schweizer Schule in Bergamo ist verwaist.
Foto: Zvg
Guido Felder

Das Lachen, die Schreie, das Getrampel: Alles ist weg. An der Schweizer Schule in Bergamo herrscht seit Aufkommen der Corona-Krise fast Totenstille. Zu hören sind lediglich ab und zu einsame Schritte, eine WC-Spülung oder ein Wasserhahn, der kurz aufgedreht wird.

Fritz Lingenhag (67) ist der Mann, der an der vor 128 Jahren gegründeten Schule – der ältesten Schweizer Auslandschule – alleine die Stellung hält. Der aus Ostermundigen BE stammende Schulleiter fährt jeden Tag viereinhalb Kilometer zur Arbeit – mit dem Auto, der Bus wäre zu gefährlich. Die sanitären Anlagen müssen regelmässig betrieben werden, sonst gibts Schäden. Auch die Fische im Aquarium brauchen Futter. Zwischendurch öffnet er die Pforte und händigt Eltern mit Mundschutz Schulmaterial für die Kinder aus.

Zack fertig, Schule zu

Bergamo ist das italienische Epizentrum des Virus: Vom Fussballmatch Atalanta Bergamo gegen Valencia aus soll es sich europaweit verbreitet haben. «Die Corona-Krise hat uns auf dem linken Fuss erwischt», sagt «il direttore» am Telefon zu BLICK. «Als wir am 2. März nach den Sportferien den Schulbetrieb wieder aufnehmen wollten, hiess es am Freitag vorher: Zack fertig, die Schule muss geschlossen bleiben.»

Rasch kam der Fernunterricht ins Rollen. «Während wir den Schülern umgehend per Anweisungen über E-Mail Aufträge erteilten und sie bei Stange hielten, übten wir Lehrer gleichzeitig eine Woche lang daran, wie wir den Unterricht am besten weiterführen sollten.» Mit der Benützung der Classroom-App spielte sich der Betrieb dann in der zweiten Woche richtig ein.

Ständig Ambulanzen vor dem Haus

Die Zeit, als die Pandemie in Norditalien ihren Höhepunkt erreicht hatte, vergisst Fritz Lingenhag nicht so schnell. «Noch vor zwei Wochen brauste nachtsüber alle fünf Minuten eine Ambulanz mit Horn und Blaulicht an unserem Haus vorbei. Ans Schlafen war kaum zu denken.» Inzwischen hört er die Ambulanz «nur» noch zwei bis drei Mal pro Nacht.

Vor allem den Kindern gehe die Krise nah. Lingenhag: «Immer, wenn sie eine Ambulanz hören, geraten sie in Panik. Alle wissen: Jetzt bringen sie wieder jemanden ins Spital. Jetzt stirbt vielleicht wieder jemand, vielleicht sogar meine Eltern.» Einige seiner Schüler hätten Grosseltern verloren.

Wie gehts denn weiter?

Seit dem 20. Februar, als die Sportferien begannen, hat Fritz Lingenhag seine Schüler nur noch übers Telefon gehört und gesehen. Bis er ihnen wieder echt begegnen kann, dauert es wohl noch Monate. «Die Schulen in Italien öffnen frühestens nach den Sommerferien im September.»

Diese Zeit nützt der Schulleiter, um die Zukunft zu planen. Die Zukunft? «Keiner weiss, wie es weitergeht», sagt er. Er tüftelt daher in seinem Büro im Schulhaus an der Verfeinerung des Fernunterrichts und überlegt sich, wie er nach der Wiedereröffnung die strengen Massnahmen des Social Distancing durchsetzen könnte. Eine Knacknuss, denn im Gegensatz zur Schweiz sind die Schulzimmer in Italien nicht so gross.

Schüler verlassen die Schule

Corona reisst ein grosses Loch in die Schulkasse. Im kommenden Jahr rechnet Lingenhag mit einem Minus von rund einer halben Million Franken, weil zwanzig Prozent der Schüler die Schule verlassen werden. «Der Grund ist hauptsächlich die Angst der Eltern, dass sie ihre Arbeit verlieren oder sonst finanzielle Einbussen erleiden werden», sagt Fritz Lingenhag.

Im Gegensatz zur Schweiz, wo man bei Kurzarbeit sein Geld Ende Monat auf dem Konto habe, müsse man in Italien um sein Geld kämpfen und vielleicht drei, vier Monate darauf warten.

Nicht aufgeben

Seit 2013 leitet Fritz Lingenhag, ein Bündner Name, die Schule in Bergamo, die von Glarner Textilarbeitern gegründet worden war. Zuvor war er fast 20 Jahre Schulleiter an Schweizer Schulen in Peru, Kolumbien und Chile. Sein persönliches grosses Problem: Wie schützt er sich selber, wenn die vielen Kinder wieder ins Schulhaus strömen dürfen? «Mit 67 Jahren gehöre ich zur Risikogruppe. Ich werde mich besonders absichern müssen.»

An ein Aufhören denkt er nämlich trotz AHV-Alter noch nicht. Noch mindestes ein Jahr wollten er, seine Frau und seine jüngste, elfjährige Tochter in Bergamo bleiben. Die Wertschätzung des Vereins, der die Schule betreibt, sei enorm. Für den Direttore ist eines selbstverständlich: «Corona hin oder her: Ich kann den Bettel jetzt nicht einfach hinschmeissen und die Schule fallenlassen.»

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