Ein Jahr Biden
Enttäuschte Hoffnungen und Sorge um die Demokratie

Unter Donald Trumps Gegnern herrschte nach der Wahl in den USA fast grenzenlose Begeisterung: «Unser langer nationaler Alptraum ist vorüber», hiess es damals in einem Kommentar der «Washington Post» zum Sieg von Joe Biden.
Publiziert: 19.01.2022 um 13:04 Uhr
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Aktualisiert: 19.01.2022 um 15:05 Uhr
ARCHIV - US-Präsident Joe Biden bei seiner Vereidigung im Januar 2021. Foto: Saul Loeb/Pool AFP/dpa
Foto: SAUL LOEB

Vor einem Jahr (20. Januar) löste der Demokrat den Republikaner Trump im Weissen Haus ab. Die Aufbruchstimmung ist inzwischen der Ernüchterung gewichen. In Umfragen finden nur noch etwas mehr als 42 Prozent der Amerikaner, das Biden einen guten Job macht. Von allen US-Präsidenten seit dem Zweiten Weltkrieg kam nach knapp einem Jahr im Weissen Haus nur Trump auf ein schlechteres Ergebnis - und die Differenz schrumpft.

Biden war mit einer Botschaft der Aussöhnung angetreten. «Nicht jede Meinungsverschiedenheit muss ein Grund für totalen Krieg sein», sagte der Demokrat in seiner Rede bei seiner Vereidigung. «Lasst uns neu anfangen.» Während der Neuanfang verpufft ist, haben sich die Fronten zwischen den Lagern verhärtet. In einer Umfrage der Universität Quinnipiac vor dem Amtsjubiläum sagten 49 Prozent der Amerikaner, Biden trage eher zur Spaltung des Landes bei, das Gegenteil meinten nur 42 Prozent. Mehr als die Hälfte (53 Prozent) rechnet damit, dass sich die politische Spaltung verschärfen wird.

Der fulminante Start des Neuen

Bidens schlechte Umfragewerte hängen mit der anhaltenden Corona-Pandemie zusammen, sind aber auch eine Folge seiner durchwachsenen Bilanz. Nach seiner Amtsübernahme legte er zunächst einen fulminanten Start hin, und einige seiner Versprechen konnte er schnell erfüllen. Schon am ersten Tag im Weissen Haus leitete er die Rückkehr der USA zum Klimaschutzabkommen von Paris ein und stoppte den Austritt des Landes aus der Weltgesundheitsorganisation WHO. In der Aussenpolitik vollzog Biden ausserdem eine Abkehr von der «America First»-Strategie seines Vorgängers. Seine erste Auslandsreise führte ihn nach Europa, wo er den Staaten der G7-Gruppe, der Nato und der EU zusicherte, dass die USA wieder als Partner mit am Tisch sässen.

Innenpolitisch zählt zu Bidens Erfolgen, dass er zwei billionenschwere Gesetzespakete durch den Kongress gebracht hat: Eines zur Förderung der von der Pandemie gebeutelten Konjunktur, ein weiteres für Investitionen in die marode Infrastruktur des Landes. «Im ersten Jahr des Präsidenten haben wir den weltweit dramatischsten Wandel in unserer Wirtschaft erlebt», sagte die Sprecherin des Weissen Hauses, Jen Psaki, am Dienstag. «Es war das Jahr mit dem grössten Beschäftigungswachstum in der amerikanischen Geschichte.» Tatsächlich hat die Arbeitslosigkeit mit einer Quote von nur noch 3,9 Prozent fast das Niveau vor der Corona-Krise erreicht. Die Errungenschaften werden allerdings überschattet von Fehlschlägen und Problemen.

Wie Biden mit Kernvorhaben scheitert

«Bidens epische Misserfolge» - diese Überschrift wählte die Nachrichtenseite Axios für eine Bilanz zum Amtsjubiläum. Mit zwei innenpolitischen Kernvorhaben - einer Wahlrechtsreform sowie einem billionenschweren Gesetzespaket für Klimaschutz und Soziales - ist Biden im Kongress zunächst gescheitert. Besonders bitter ist das für ihn, weil seine Demokraten in beiden Kammern - dem Repräsentantenhaus und dem Senat - Mehrheiten haben, wenn auch knappe. Nicht nur nutzen die Republikaner jede Möglichkeit, Bidens Pläne zu torpedieren. Zentrale Vorhaben scheitern am Widerstand aus Bidens eigener Partei.

Für Biden könnte es bald noch schwieriger werden

Dabei hatte Biden im Wahlkampf mit seinem Verhandlungsgeschick und mit seiner langen Kongress-Erfahrung geworben - von 1973 bis 2009 war er selbst Senator. Düster für den heute 79-Jährigen sind die Aussichten: Bei den Kongresswahlen im kommenden November ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Demokraten ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus und womöglich auch im Senat verlieren werden. Dann könnten die Republikaner ihre Blockadepolitik deutlich ausweiten, Bidens Gesetzesvorhaben hätten kaum Aussicht auf Erfolg.

Bidens Schwierigkeiten sind nicht auf den Kongress beschränkt. Manche negative Entwicklung hat er nicht massgeblich zu verantworten, das gilt zum Beispiel bei den Verbraucherpreisen. Die Inflationsrate ist auf das höchste Niveau seit 40 Jahren gestiegen. Andere Probleme gehen dagegen eindeutig auf sein Konto, etwa die Katastrophe in Afghanistan: Der von ihm befohlene bedingungslose Abzug der US-Truppen brachte die Taliban zurück an die Macht, die Biden-Regierung wirkte völlig überfordert. Glücklos agiert auch Vizepräsidentin Kamala Harris, die kaum in Erscheinung tritt.

Trump ist nie verschwunden

Viele Wähler verbanden mit Biden vor allem zwei Hoffnungen: Dass sie Trump endgültig los sein würden und dass das Coronavirus unter Kontrolle gebracht werde. Biden legte mit der Impfkampagne zwar ein hohes Tempo vor, seitdem gestaltet sich der Kampf gegen die Pandemie aber sehr holprig. Vor wenigen Tagen scheiterte er mit Plänen für eine Impf- oder Testpflicht in grösseren Firmen an der konservativen Mehrheit im Supreme Court, die Trump einst zementiert hat. Trump wiederum ruft sich nicht nur in solchen Echos seiner Amtszeit in Erinnerung - er ist nie von der politischen Bühne verschwunden.

Biden hat lange versucht, seinen polternden Vorgänger zu ignorieren. Einen Kurswechsel vollzog der Präsident am 6. Januar, dem Jahrestag der Erstürmung des Kapitols durch Trump-Anhänger. Biden machte seinen Vorgänger direkt für den Angriff auf den Kongress verantwortlich, der zu dem Zeitpunkt seinen Wahlsieg bestätigen sollte. «Zum ersten Mal in unserer Geschichte hat ein Präsident nicht nur eine Wahl verloren, sondern versucht, die friedliche Machtübergabe zu verhindern», sagte Biden. Bei der Gelegenheit rieb er noch etwas Salz in die Wunde Trumps, der seine Niederlage nie akzeptiert hat: «Er ist nicht nur ein früherer Präsident. Er ist ein besiegter früherer Präsident.»

«Vollständig und total versagt»

Einst war es üblich, dass amtierende oder ehemalige Präsidenten ihre Vorgänger oder Nachfolger nicht kritisierten. Trump warf diese Gepflogenheit auch über den Haufen. Der Republikaner spart seit jeher nicht mit Angriffen auf Biden, dem er immer noch vorwirft, durch Wahlbetrug an die Macht gekommen zu sein - obwohl er mit Klagen vor Dutzenden Gerichten scheiterte. «In weniger als einem Jahr hat Joe Biden mit den radikalen Demokraten unser Land an den Rand des Ruins gebracht», sagte Trump am Samstag bei einer Rede vor Anhängern im Bundesstaat Arizona. Biden habe «völlig versagt», wetterte er. Seine Regierung sei «unfähig» und «inkompetent». Das Land werde zerstört.

Ist die amerikanische Demokratie in Gefahr?

Wie sehr Trump mit seinen unbelegten Behauptungen über Wahlbetrug das Vertrauen in die Demokratie besonders bei Republikanern untergraben hat, zeigt eine Umfrage der Universität von Massachusetts in Amherst von Ende vergangenen Jahres: Unter den Anhängern von Trumps Partei sagten 71 Prozent, Bidens Sieg sei wahrscheinlich oder definitiv nicht rechtmässig gewesen. Alarmierend ist auch das Ergebnis einer Umfrage des Senders CBS, wonach 62 Prozent der Amerikaner bei künftigen Präsidentenwahlen Gewalt der Verliererseite erwarten. Rund zwei von drei Befragten sehen die Demokratie in den USA in Gefahr.

Das «New York Magazine» schrieb mit Blick auf eine mögliche erneute Kandidatur Trumps kürzlich: «Es ist kaum übertrieben zu sagen, dass das Schicksal der amerikanischen Demokratie vom Erfolg von Präsident Joe Biden abhängen könnte.» Trump hat bislang offengelassen, ob er bei der Präsidentenwahl 2024 noch einmal antreten möchte. Nach der Umfrage der Universität Quinnipiac würden 69 Prozent der Anhänger der Republikaner einen solchen Schritt befürworten. Bei allen Schwierigkeiten Bidens wäre die Wahl dieser Umfrage zufolge aber kein Selbstläufer für den heute 75 Jahre alten Trump: 59 Prozent der Amerikaner lehnten eine erneute Kandidatur des Republikaners ab. (SDA)

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