Almost Heaven – fast wie im Himmel», besingt John Denver in «Country Roads» die bewaldeten Hügellandschaften von West Virginia. Ob sich die sechs Schweizer Mannen Jakob Halder, Ueli Müller, Heiri Asper, Sepp Zielmann und Xaver Holtzweg – angeführt vom Vermessungstechniker Isler – auch fast wie im Himmel fühlten, als sie 1869 nach einem Vier-Tage-Marsch durch die Wildnis endlich da ankamen? Wohl kaum.
Die Tour war eine arge Strapaze: Von New York aus sind sie mit dem Zug nach Clarksburg gedampft und dort losmarschiert. Der Weg erwies sich als Indianerpfad durch den Wald – über Stock und Stein. Die mit Äxten und Sägen, Gewehren, Kochgeschirr und Planen beladenen Handkarren mussten sie bald zurücklassen und ihre ganze Habe schultern. Pro Tag kamen sie etwa 25 Kilometer voran. Abends mussten sie in der Wildnis campieren. Dann endlich war die Bergregion erreicht, die ihnen in den schönsten Farben geschildert worden war.
Erster Eindruck vor 150 Jahren: zwiespältig
Sie standen am Ziel ihrer Reise, jedoch mit widersprüchlichen Gefühlen. Einerseits waren sie erschrocken, wie entlegen die «neue Heimat» war. Ausser Wald gab es nichts. Wer etwas einkaufen wollte, musste sich zu Fuss nach French Creek aufmachen, den Nebenfluss des Buckhannon River entlang auf einen Zwei-Tage-Marsch durch die Wildnis.
Andererseits hatte der Vermesser recht – hier war es fast wie in der Schweiz: Das Klima identisch, Wasser floss in klaren Bergbächen, in denen sich Forellen und Barsche tummelten, der Boden war fruchtbar. In den unberührten, ausgedehnten Wäldern voller Wild stand Holz von bester Qualität. Und die Parzellen wurden zu einem Spottpreis angeboten.
Hier wartete harte Arbeit und ein entbehrungsreiches Leben auf die Pioniere. Trotzdem befanden sie nach einigen Beratungen, sie seien zur richtigen Zeit am richtigen Ort angekommen. Die hier entstehende Community solle «Helvetia» heissen, in Erinnerung an die alte Heimat. Und so lautete die Nachricht, die sie Vermesser Isler zuhanden des Grütlivereins in Brooklyn mitgaben: «Ihr könnt kommen!» Denn dort, in New York, harrte unter Obhut des Vereins eine stattliche Gruppe von Bauern und Handwerkern aus der Schweiz, die während des Sezessionskrieges per Schiff in der Neuen Welt angekommen waren, eines Ortes, wo sie mit ihren Familien leben und arbeiten konnten.
Die ersten Monate bedeuteten Schwerstarbeit. Erst musste eine Bleibe aus dem Nichts gestampft werden – ein «Bunkhouse», eine Behausung aus Baumstämmen. Der Winter kündigte sich bereits an. Sie hausten zusammen in einem Raum, und die Jagd war der einzig mögliche Nahrungserwerb. Zu Beginn des Frühjahrs halfen sich die sechs Männer gegenseitig, jeder Familie das eigene Blockhaus zu zimmern.
Es gab eine Zeit, da war die Schweiz ein Auswandererland – und die USA das beliebteste Ziel. Zwischen 1816 und 1913 zogen mehr als 400 000 Schweizer nach Übersee, die Mehrheit in die Vereinigten Staaten. Viele von ihnen erhielten im Mittleren Westen gratis Ackerland. Noch heute zeugen viele Ortsnamen wie New Glarus im Bundesstaat Wisconsin, New Bern in North Carolina oder eben auch Helvetia von den Schweizer Auswanderern. Über eine Million US-Amerikaner haben Schweizer Wurzeln, unter ihnen Schauspielerin Renée Zellweger, Sängerin Cyndi Lauper oder Footballer Ben Roethlisberger.
Es gab eine Zeit, da war die Schweiz ein Auswandererland – und die USA das beliebteste Ziel. Zwischen 1816 und 1913 zogen mehr als 400 000 Schweizer nach Übersee, die Mehrheit in die Vereinigten Staaten. Viele von ihnen erhielten im Mittleren Westen gratis Ackerland. Noch heute zeugen viele Ortsnamen wie New Glarus im Bundesstaat Wisconsin, New Bern in North Carolina oder eben auch Helvetia von den Schweizer Auswanderern. Über eine Million US-Amerikaner haben Schweizer Wurzeln, unter ihnen Schauspielerin Renée Zellweger, Sängerin Cyndi Lauper oder Footballer Ben Roethlisberger.
Nach und nach trafen ihre Familien und weitere Auswanderer aus der Schweiz ein, vor allem aus dem Aargau und dem Bernbiet. So die Merklis, Betlers, Ischs, Bürkis, Fahrners und die Zumbachs. Nur wenige traten nach einem Augenschein gleich wieder den Rückweg an. Die meisten versuchten, aus der neuen Waldheimat das Beste zu machen. Sie rodeten, zimmerten Behausungen und Ställe, pflanzten an, setzten Obstbäume und erkundeten, was der Wald und die Gewässer an Essbarem hergaben.
Hundert Familien – unzählige Geschichten
Schon ein paar Jahre später war die Gemeinde auf hundert Familien angewachsen. Es war eine Schule entstanden und eine kleine Kirche. Inzwischen gab es einen passablen Weg durch das bewaldete Tal nach Buckhannon im Norden und Pickens im Süden.
Einer dieser frühen Siedler war der Schuhmacher Gottlieb Daetwyler aus Wittwil im aargauischen Suhrental. Er reiste mit Frau und Söhnchen in der Schweizer Siedlung an. Er kaufte zwei Grundstücke; jedes kostete ihn 15 Dollar. Auf dem einen zimmerte er nach und nach sein Wohnhaus, auf dem anderen neben dem General Store seine Schuhmacher-Werkstatt. Der Traum vom Glück in der Frontier-Siedlung erwies sich als tückisch: Schon im Jahr darauf verstarb seine Frau. Er heiratete wieder – und bekam nochmals zwölf Kin-der. Nur die Hälfte von ihnen erreichte das Erwachsenenalter. Gegen Krankheiten wie Polio, Diphtherie und Tuberkulose war der Dorfdoktor Stucki nämlich weitestgehend machtlos. Das «Land der unbegrenzten Möglichkeiten» war für Gottlieb auf 18 Quadratmeter geschrumpft – auf die Werkstatt mit Leisten, Leder, Leim, Zwirn und Ahlen. Sie steht heute noch da.
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wuchs Helvetia enorm. Die Baumstämme fielen jetzt für die Holzproduktion. Sie wurde – nach der Baumwolle – zum zweitwichtigsten Wirtschaftszweig in Amerika.
Die Dorflehrerin Elise schrieb in einem Brief an ihre Freundin in Philippi, West Virginia: «Die Nachfrage nach Fichten- und Hartholz aus unseren Wäldern ist enorm. An jedem neuen Tag, den Gott uns schenkt, kommen von der Bahnstation in Pickens Männer und ganze Familien die fünf Meilen nach Helvetia gepilgert. Sie suchen Arbeit in einem Logger Camp als Holzfäller oder in einer Sägerei.»
1000 Menschen lebten 1913 in Helvetia
Jakob Zumbach machte in dieser Zeit in seinem General Store gute Geschäfte. Seine Eltern emigrierten einst mit ihm und seinen Brüdern Christian und Fred von Gurzelen bei Thun in die USA. Nach ein paar Jahren im Tuscarawas County in Ohio siedelten sie nach Helvetia über.
Im Jahre 1913 lebten mehr als 1000 Menschen in und um die Pioniersiedlung. Der Laden von «Jacob» mit Post Office war der Mittelpunkt des geschäftigen Treibens. Doch mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs fand der Holzboom ein rasantes Ende. Die Holzfäller waren so schnell wieder weg, wie sie gekommen waren. Die wenigsten von ihnen bezahlten im General Store vor der Abreise ihre Schulden. Postmaster Jacob Zumbach sah sein Lebenswerk ruiniert. In der Bredouille griff er in die Kasse des Postbüros und wollte ebenfalls verschwinden. Aber der Sheriff erwischte ihn.
In der «Charleston Daily Mail» vom 27. Dezember 1915 ist zu lesen: «Der stellvertretende US-Marshall aus Philippi kam mit zwei Gefangenenin die Stadt. Bei dem einen von ihnen handelt es sich um Jacob Zumbach, den ehemaligen Postmeister von Helvetia, der beschuldigt wird, die Mittel der Gemeinde in der Höhe von mehr als 3000 Dollar unterschlagen zu haben.» Nach heutigem Wert entspräche der Deliktbetrag etwa hunderttausend Dollar. Nach Verbüssung einer zweijährigen Gefängnisstrafe und Rückgabe des Geldes zog Jakob Zumbach es vor, im nahen Lottridge in Ohio zu leben.
Helvetia heute
Hinkommen erfordert noch immer Geduld. Meile für Meile zieht sich die kurvenreiche Strasse durch die Appalachen-Wälder, bis das Dorfschild «Helvetia» auftaucht. Clara Lehmann, Filmemacherin und Nachfahrin von Schweizer Pionieren, wuchs da auf – und sie ist nun mit ihrem Mann und den beiden Töchtern wieder hierher zurückgekehrt. Ihr Ururgrossvater gehörte zu den ersten Schweizer Siedlern von Helvetia.
«Meine inzwischen verstorbene Grossmutter Eleanor Fahrner-Mailloux führte das Restaurant ‹The Hütte› im Dorf. Sie hat dafür gesorgt, dass das Schweizer Erbe über Generationen nicht verloren ging, sei es in Kulinarik, Musik, Tanz, Kunst oder Poesie», erzählt sie. «Bei ihr im Restaurant gab es Sauerbraten, Bratwurst zu gerösteten Kartoffeln, Helvetia-Käse zu selbstgebackenem Brot – und Apfelbutter. Sie hat alte Bräuche wiederbelebt, etwa die Fasnacht. Die ist hier inzwischen jedes Jahr ein Besuchermagnet.»
Da in der Boomzeit um die tausend Anwohner hier lebten – darunter viele kinderreiche Familien von ausgewanderten Schweizern –, ist die Zahl der Schweizer Nachfahren, die in der näheren und weiteren Umgebung leben und ein wenig Heimweh nach Helvetia im Herzen mit sich tragen, beträchtlich. Und so erscheinen diese bei jedem angesagten Fest im ehemaligen Heimatdorf – zu Hunderten.
Festfreudig sind sie, die Helvetier
Und Feste gibt es hier etliche im Jahresablauf: Fasnacht, 1. August mit Bundesfeier, das Ahornsirup-Festival und im Herbst der Helvetia Day. Zum 150. Jubiläum in diesem Herbst wird der Helvetia Day besonders ausgiebig und festlich begangen: Das Programm steht bereits.
Viele Besucher lockt alljährlich im April auch das traditionelle Helvetia Ramp Dinner Fest ins Dorf. Ramp ist ein wilder Lauch, ähnlich dem Bärlauch in Europa. Freiwillige dämpfen in der Küche der Community Hall ganze Scheffel von frisch gepflückten Ramps, brutzeln Schinken, Zwiebeln, Bohnen und Kohl dazu und braten Berge von Kartoffeln. Dazu werden Apfelmus, Maisbrot und Desserts serviert.
Wer wissen will, was sich in Helvetia in den letzten achtzig Jahren zugetragen hat, ist bei Vernon John Burky an der richtigen Adresse. Der ehemalige Trucker ist das lebende Dorfarchiv. Der silberhaarige passionierte Hobby-Fiddler weiss alles. «Bis ich sieben Jahre alt war, sprach ich nur Schwiizerdütsch», erinnert er sich. «Erst als meine ältere Schwester zur Schule ging, brachte sie mir Englisch bei.» Vernons Grossvater John wurde in der Schweiz geboren und kam als Bub mit seiner Familie hierher. Sie hatten einen Hof oben in den Turkey Bone Mountains.
Zurück zu den Blockhäusern
«Ein John Kellenberger aus Appenzell brachte Schweizer Braunvieh nach Helvetia», weiss er. So habe man bald Käse herstellen können – Schweizer Käse, «so gross wie Wagenräder». Es wurden auch Würste gemacht, am Schlachttag – und im eigenen Rauchhaus geräuchert. Seine Grossmutter raffelte Kartoffeln zu Rösti und wusste aus Kohl Sauerkraut zu machen.
«Als Schuljunge begann ich, Ahornsirup zu machen. Das süsse Zeug ist hier überaus begehrt als Topping über die Pfannkuchen. Wenn die Ahornbäume im Frühjahr voll im Saft standen, pikste ich sie an. Ich brauchte 50 Gallonen Saft, um eine Gallone Sirup einzudicken. Die brachte mir dann zwei Dollar ein.»
Heute lebt auch seine Tochter Sandy wieder hier. Wie Clara Lehmann hat es auch sie nach Jahren in den Big Citys der USA dahin zurückgezogen, wo Grossväter und Urgrossväter einst ihre Blockhäuser zimmerten. Zurück an den Ort, wo sie hingehört. «Take me home, to the place I belong, West Virginia, mountain mama.» Das Heimweh nach Helvetia nahm überhand.
Am Bundesfeiertag feiert die Schweiz den Rütlischwur, die Gründung der Schweiz. Weiss doch jedes Kind! Denkste, wie eine Umfrage zeigt. BLICk erklärt, was wir am 1. August eigentlich genau feiern.
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