Wenn es Nacht wird, sind in der kolumbianischen Stadt Cali Schüsse zu hören. Jagdszenen spielen sich ab. Vermummte plündern Geschäfte und legen Feuer, die Spezialeinheit Esmad mit Polizisten in schwarzer Ganzkörper-Panzerung dominiert die Strassen. Tagsüber gehen die Bewohner auf die Strassen, schwenken Gelb-Blau-Rote-Fahnen, tanzen zum Rhythmus des Salsa. Sagen nein zu einer geplanten Steuerreform.
«Ein Gegensatz, der einem das Herz brechen kann», sagt die Aktivistin Mayte Misas Tique in Cali im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Die Journalistin Monica Valdés in Bogotá empfiehlt, nach 18 Uhr nicht mehr an Protesten teilzunehmen. Denn dann wird das Demonstrieren in Kolumbien gefährlich. Lebensgefährlich.
Dutzende Tote, über 1000 Verletzte
Mindestens 24 Menschen sind nach dem jüngsten Report der nationalen Ombudsstelle, auf den sich die Zeitung «El Tiempo» berief, während der Protesttage in dem südamerikanischen Land im Aufruhr ums Leben gekommen, elf unter ihnen demnach durch die Polizei und die meisten in Cali. Die lokale Zeitung «El País» schrieb, die Salsa-Hauptstadt erlebe eine «Nacht des Schreckens».
Die Menschenrechtsorganisation «Indepaz» sprach sogar von insgesamt 31 Todesfällen und berichtete von mehr als 1200 Verletzten. «Gewalt dieser Art ist nicht zu rechtfertigen», sagt Journalistin Valdés, bevor sie wieder auf die Strasse geht.
Reform ist weg, Proteste bleiben
Seit vergangener Woche demonstrieren die Kolumbianer gegen eine umstrittene Steuerreform, die vor allem zu Lasten der Mittel- und Unterschicht gegangen wäre. Die Arbeitslosigkeit in Cali ist hoch, die Armut gross. Die Corona-Pandemie hat die Lage verschärft. Präsident Iván Duque hat die Reform inzwischen zurückgenommen, Wirtschaftsminister Alberto Carrasquilla trat zurück. Doch die Proteste halten an.
Die meisten Demonstranten haben nun neue Ziele wie den Widerstand gegen eine ebenfalls geplante Gesundheitsreform und den Einsatz für den brüchig gewordenen Friedensprozess. «Es kommen immer mehr Themen dazu», sagt Misas Tique.
«Jugend hat Gefühl, keine Zukunft zu haben»
Und es kommt immer mehr zum Vorschein, dass Kolumbien einige seiner strukturellen Probleme wie die soziale Ungleichheit und die damit verbundene politische Polarisierung nicht gelöst hat. Es geht um nichts weniger als eine gerechte Gesellschaft. Wie in Brasilien 2013, in Chile oder Kolumbien 2019 steckt hinter den Demonstrationen eine tiefe, allgemeine Unzufriedenheit.
«Diejenigen, die auf die Barrikaden gehen, sind nicht Gewerkschaftsführer, sondern eine Jugend, die das Gefühl hat, keine Zukunft zu haben, die Angst hat wegen des Fehlens von Möglichkeiten, aber auch, weil sie seit eineinhalb Jahren eingesperrt gewesen ist», sagt Rosalía Correa von der Universidad Javeriana in Cali.
Fast alle Toten sind jung
Nach Meinung der Politikwissenschaftlerin ist das nicht nur in der Mittelklasse festzustellen, sondern auch in ärmeren Vierteln wie dem Aguablanca-Distrikt in Cali. «Das ist ein Dampfkessel, der lange Zeit Gewalt erlebt hat», sagt Correa. Nun entweicht der Druck. Fast alle Toten sind Jugendliche oder junge Erwachsene.
Kolumbien ist mit rund 50 Millionen Einwohnern nach Brasilien das zweitbevölkerungsreichste Land in Südamerika sowie ein wichtiger Verbündeter der USA in der Region. Mehr als 50 Jahre herrschte ein Bürgerkrieg, 220 000 Menschen kamen ums Leben, Millionen wurden vertrieben. Viele Binnenflüchtlinge suchten in den Randbezirken der Grossstädte, wie im Aguablanca-Distrikt, bessere Lebensmöglichkeiten.
Brüchiger Frieden mit Farc
2016 schloss die kolumbianische Regierung einen Friedensvertrag mit der Guerilla-Organisation Farc, die Wirtschaft erlebte einen Aufschwung, der Tourismus in dem vielfältigen Land zwischen Anden, Pazifik und Karibik, auch aus Deutschland, boomte. Doch der Frieden ist brüchig geworden, die exzessive Polizeigewalt ein Rückschlag.
Immer wieder ist die Polizei in Kolumbien in die Kritik geraten, etwa bei den Protesten 2019, als ebenfalls mehrere Menschen ums Leben kamen. Der inzwischen verstorbene Verteidigungsminister Carlos Holmes Trujillo entschuldigte sich, Rufe nach einer Reform wurden laut.
Der Drogenhandel, mit dem auch die Farc sich unter anderem finanzierte, hat dazu geführt, dass auch und gerade in Cali, wo sich in den 1970er Jahren verschiedene Kokainproduzenten und -händler zusammenschlossen, viele Waffen im Umlauf sind. Aufgrund der Erfahrungen aus dem jahrzehntelangen bewaffneten Konflikt ist die Polizei dem Verteidigungsministerium unterstellt - und geht hart vor.
«Es ist der Staat, der tötet», sagt die Journalistin Monica Valdés. «Sie haben es versteckt getan, aber jetzt ist es völlig offen.» Das Motto der Proteste «No a la reforma tributaria» (Nein zur Steuerreform) hat sich denn über die Tage auch geändert hin zu «Nos están matando» (Sie töten uns).
Jetzt diskutieren die Demonstranten in Cali, wie es weitergehen soll. Die einen sind wild entschlossen, ohne Frist weiter zu demonstrieren. Andere, wie die Aktivistin Mayte Misas Tique, sind da zurückhaltender. «Wir wollen schauen, wie wir weitermachen, ohne so sehr das Leben zu riskieren». (SDA)