Die schwedische Regierung könnte die Schraube in der Corona-Krise bald anziehen. Laut Medienberichten vom Wochenende arbeitet sie an einer Gesetzgebung, welche die Ergreifung «ausserordentlicher Massnahmen» zur Bekämpfung von Covid-19 ermöglichen soll. Das Land hat auf die Ausbreitung des Coronavirus im internationalen Vergleich bisher sehr zurückhaltend reagiert. Die Schweden können immer noch shoppen, in Restaurants gehen, sich die Haare schneiden lassen. Kinder unter 16 gehen nach wie vor zur Schule.
Schweden bezahlt einen hohen Preis dafür. Am Sonntag wurden insgesamt 401 Corona-Tote gezählt. Das ist eine Zunahme von acht Prozent im Vergleich zum Samstag und mehr als die Gesamtzahl der Todesopfer in Norwegen, Finnland und Dänemark zusammen. Dort wurden im Gegensatz zu Schweden einschneidende Massnahmen ergriffen. Grenzen und Schulen wurden geschlossen, ebenso Geschäfte, die nicht den täglichen Bedarf abdecken. Finnland hat sogar die Hauptstadt Helsinki vom Rest des Landes isoliert.
Parlament soll diese Woche entscheiden
Während in Schweden die Anzahl Corona-Tote pro Million Einwohner 37 beträgt, sind es in Dänemark 28, in Norwegen 12 und in Finnland 4,5. Diese Zahlen lassen die sozialdemokratische Regierung von Ministerpräsident Stefan Löfven (62) offenbar umdenken. Zwar wurden anfängliche Pläne, das Parlament per Dekret zu umgehen, nach heftigem Protest der Opposition aufgegeben. Doch die Abgeordneten sollen noch diese Woche ein Gesetz vorgelegt bekommen, das neue Notfallmassnahmen ermöglicht, wie etwa die Schliessung von Flughäfen, Bahn- und Busbahnhöfen und von Geschäften und Restaurants. Zudem sollen öffentliche Versammlungen eingeschränkt und medizinische Geräte beschlagnahmt werden können.
Die anfängliche Strategie der Durchseuchung wäre somit beerdigt. Anders Tegnell, Schwedens Chefepidemiologe, musste unlängst einräumen, dass Schwedens Infektionskurve «anfängt, etwas steiler zu werden». Alarmierend ist insbesondere der Umstand, dass aus vielen Altersheimen Covid-19-Fälle gemeldet werden. Ein Drittel der schwedischen Gemeinden hat inzwischen bestätigte oder vermutete Corona-Fälle in ihren Pflegeheimen. In Stockholm ist ein Drittel der Altersheime betroffen.
Kritik von Wissenschaftlern
Bei den Wählern findet die bisher lockere Handhabung der Corona-Krise durch die Regierung Anklang. In einer neuen Umfrage geben 44 Prozent der Befragten an, dass sie Ministerpräsident Löfven vertrauten. Im Februar waren es noch 26 Prozent. Doch die Strategie gerät bei Wissenschaftlern zunehmend unter Beschuss. Stefan Hanson, ein schwedischer Experte für Infektionskrankheiten, sagt, in Stockholm könne die Situation schnell kritisch werden. «Es besteht nun die reale Gefahr, dass die Fälle so stark ansteigen, dass die Krankenhäuser nicht mehr nachkommen.»
Cecilia Söderberg-Nauclér ist eine von etwa 2300 Wissenschaftlern, die in einem offenen Brief an die Regierung strengere Massnahmen zum Schutz des Gesundheitssystems fordern. Die Regierung habe «keine Wahl», sagt Söderberg-Nauclér. Stockholm müsse jetzt abgeriegelt werden. «Wir müssen die Situation unter Kontrolle bekommen. Wir können nicht in eine Lage geraten, in der ein völliges Chaos entsteht.» (noo)