In sich versunken, nachdenklich sitzt Dominik Stillhart (52) am Schreibtisch, als BLICK ihn in seinem Genfer Büro trifft. Zwei Tage zuvor ist der Leiter Operationen beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) von einer zehntägigen Reise durch den Jemen und Somalia zurückgekehrt. Er war da, wo Millionen Menschen der Hungertod droht. Selbst für Stillhart, der in seinen 25 Jahren beim Roten Kreuz viel erlebte, ist die Katastrophe überwältigend. Insgesamt leiden derzeit 20 Millionen Menschen im Südsudan, Nigeria, Somalia und im Jemen unter der schlimmsten Hungerkrise seit Jahren.
BLICK: Herr Stillhart, wie geht es Ihnen nach dieser Reise?
Dominik Stillhart: Es ist schwer zu verkraften, wenn man Menschen mit kleinen Kindern sieht, die am Verhungern sind. Das wühlt mich selbst nach all den Jahren beim Roten Kreuz auf.
Welche Bilder werden Sie nie vergessen?
In einem Spital in Somalia traf ich einen Mann, der am Krankenbett seiner todkranken Frau sass. Er erzählte mir, dass erst alle Tiere verendeten. Danach starben seine drei Kinder. Seine kranke Frau sei alles, was er noch habe. Und in der Stadt Sanaa im Jemen besuchte ich ein Spital, das innerhalb eines Tages 150 neue Cholerafälle behandeln musste. Es war total überfordert vom Ansturm an Menschen mit schlimmem Durchfall. Ein riesiges Chaos, viel Geschrei. Da lagen Menschen zu viert auf Matratzen im Korridor, jeder mit Infusionen im Arm. Sogar draussen im Garten lagen sie.
Sie kamen gleich zum Ausbruch der Cholera-Epidemie an?
Am ersten Tag hatte ich zum ersten Mal von einigen Hundert Fällen gehört. Am fünften Tag waren es bereits über 10'000 Fälle. Jetzt spricht man von mehr als 30'000 Fällen.
Was war das Ziel Ihrer Reise?
Dass wir mehr Aufmerksamkeit bekommen für den Jemen und Somalia, aber auch für Südsudan und Nigeria. Alles Länder, in denen schlimme Bürgerkriege wüten. Ich will zeigen, dass die Situation extrem schlimm ist. 20 Millionen Menschen leiden an Hunger! Das ist nicht business as usual.
Wie viel Zeit haben die Menschen noch?
Das Schlimmste ist noch nicht vorbei. In Somalia hat es zwar endlich geregnet. Aber das hat keinen unmittelbaren Einfluss auf die Situation. Im Gegenteil, die Cholera wird in solch einer Phase eher schlimmer. Ich glaube, die nächsten zwei, drei Monate sind entscheidend. Man muss jetzt Nahrungsmittel in die Region bringen, damit die Situation besser wird.
Sind Sie optimistisch?
Obwohl sich die Situation in den nächsten Wochen weiter zuspitzen wird, sollten wir es fertigbringen, das Schlimmste zu verhindern. Die Geldgeber haben von der Hungersnot in Somalia im Jahr 2011 gelernt und schneller reagiert. Damals starben in Somalia 250'000 Menschen, die Hälfte davon Kinder. Eine Garantie kann ich trotzdem nicht geben.
Was bewirkt das Rote Kreuz vor Ort?
In unseren Ernährungszentren sah ich, wie es den Menschen schnell besser geht. Kommen Kinder im Zentrum an, sind sie sehr kraftlos. Nach sieben Tagen bei uns sind sie fast wieder gesund. Das gibt Hoffnung.
Warum interessiert sich die Weltöffentlichkeit nicht für diese Krise?
Weil wir übersättigt sind. Es gibt derzeit so viele Länder, die gleichzeitig von schlimmen Kriegen heimgesucht werden. Die meisten von uns verstehen gar nicht, was dort geschieht, weil die Krisen so komplex sind.
Dabei sprach die Uno von der grössten humanitären Krise seit dem Zweiten Weltkrieg.
Ich halte diese Aussage für einen Fehler. Wir müssen als Hilfsorganisationen wahnsinnig aufpassen mit diesen Superlativen. Das ermüdet die Menschen.
Berühren Bilder abgemagerter Kinder heute noch?
Leider braucht es Bilder verhungernder Kinder, damit die Öffentlichkeit überhaupt auf solche Krisen aufmerksam wird. Mit solchen Bildern um Spenden zu bitten, mag man gut oder schlecht finden, aber sie lassen niemanden kalt. Das Tragische ist, dass man heute die Mittel hätte, um diese Bilder zu verhindern. Man müsste nur früher reagieren.
Wer ist schuld am Hunger?
Man sollte nicht glauben, es sei allein der Klimawandel. Im Jemen, Südsudan und Nordosten Nigerias herrscht gar keine Dürre. Der Hunger dort ist allein das Resultat langwieriger Konflikte, gepaart mit der Unfähigkeit lokaler, regionaler und globaler Mächte, eine politische Lösung zu finden. Ein Grossteil des Leids im Jemen ist der Tatsache geschuldet, dass in den vergangenen zwei Jahren 160 Spitäler zerstört wurden. Für die Völkerrechtsverletzung sind die Kriegsparteien verantwortlich.
Wie gefährlich sind die Einsätze für das Rote Kreuz?
Wir arbeiten sehr nah an der Frontlinie. Weil sich mehrere Stämme bekriegen, sind die Umstände sehr komplex. Im belagerten Taizz etwa, der zweitgrössten Stadt Jemens mit einer halben Million Einwohner, wollten wir einen Stadtteil mit Nahrungsmitteln versorgen. Doch statt in zehn Minuten über die Frontlinie zu fahren, mussten wir einen sechsstündigen Umweg durch die Berge nehmen. Vorbei an vielen Checkpoints, wo wir verhandeln mussten. Solche Schwierigkeiten müssen unsere Teams täglich bewältigen. Aber weil wir das können, arbeiten wir selbst an Orten, wo ausser uns niemand ist.
Sie betreiben derzeit Nothilfe. Wie planen Sie längerfristig?
Derzeit verteilen wir oft Bargeld an die Menschen, meist direkt auf das Handy der Bedürftigen. Das ist viel effizienter, billiger und sicherer, als wenn man mit grossen Nahrungsmittelkonvois durch gefährliche Gegenden fährt. Aber das kann man nicht ewig machen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen wieder auf eigenen Füssen stehen können. Darum stellen wir Nomaden Tiere zur Verfügung, verteilen Saatgut an die Bauern, reparieren Wasserpumpen.
Wie schaffen Sie es, angesichts des Leids nicht zynisch zu werden?
Indem ich das Leid an mich heranlasse. Ich will das spüren. Wahrte ich eine zu grosse Distanz, würde ich zynisch. Und das ist das Letzte, was wir uns als Helfer erlauben dürfen.
Was gibt Ihnen Hoffnung?
Ich sehe, was wir vor Ort bewirken. Wenn wir eine Familie zusammenführen können, die über ein Jahr lang auseinandergerissen war, gibt mir das Kraft weiterzumachen.
Dominik Stillharts Reise führte ihn unter anderem in die Stadt Sanaa im Jemen, wo er ein Choleraspital besuchte, sowie nach Baidoa in Somalia zu einem Ernährungszentrum. Im Jemen wurde nach Ausbruch der Cholera-Epidemie der Notstand ausgerufen. Im Land eskalierte 2015 der Bürgerkrieg, als der Nachbar Saudi-Arabien militärisch eingriff. Somalia leidet derweil an der schlimmsten Dürre seit Jahrzehnten.
Dominik Stillharts Reise führte ihn unter anderem in die Stadt Sanaa im Jemen, wo er ein Choleraspital besuchte, sowie nach Baidoa in Somalia zu einem Ernährungszentrum. Im Jemen wurde nach Ausbruch der Cholera-Epidemie der Notstand ausgerufen. Im Land eskalierte 2015 der Bürgerkrieg, als der Nachbar Saudi-Arabien militärisch eingriff. Somalia leidet derweil an der schlimmsten Dürre seit Jahrzehnten.