Gestern hat Dominik Stillhart den BLICK-Newsroom besucht. Er ist Direktor für internationale Einsätze beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Die Krisen in Syrien, in der Ukraine und in Jemen lassen das Schicksal der Palästinenser in Gaza in Vergessenheit geraten. Dies, obwohl dort der absolute Ausnahmezustand herrscht.
Als am 13. Mai in Jerusalem die neue US-Botschaft eröffnet wird, kommt es an der Grenze zu Gaza zur Katastrophe. Tausende palästinensische Demonstranten rücken beim «Marsch der Rückkehr» dicht an den Grenzzaun, dahinter steht die bewaffnete Armee Israels.
Die Situation eskaliert. Soldaten schiessen schliesslich mit scharfer Munition. 60 Palästinenser sterben, Tausende werden angeschossen, insgesamt gibt es über 13'000 Verletzte. Die Spitäler in Gaza sind komplett überlastet.
BLICK: Herr Stillhart, wie beurteilt das IKRK die Situation in Gaza?
Dominik Stillhart: In den vergangenen Wochen gab es in Gaza mehr Verletzte und Tote als während des ganzen 50-tägigen Krieges im Jahr 2014. Die Spitäler in Gaza sind innert kürzester Zeit mit 3500 Patienten mit Schussverletzungen konfrontiert worden.
Was heisst das konkret?
Ein Chirurg von uns, der in einem grossen Spital in Gaza arbeitet, sagt, er habe solche Szenen wie vor allem am 14. Mai noch nie erlebt. Sogar das Reinigungspersonal musste an diesem Tag bei der Triage helfen, aber auch Patienten Venen zudrücken und den Verletzten Wasser bringen. Das Gesundheitssystem in Gaza ist komplett überfordert angesichts der vielen Tausend Menschen, die in den letzten Wochen eingeliefert werden mussten.
Gab es keine Möglichkeit, Palästinenser in israelischen Spitälern zu behandeln, um die humanitäre Lage in Gaza zu entschärfen?
Nicht nach unserem Wissen. In jedem Fall haben wir unsere medizinische Massnahmen verstärkt, um in Gaza so viele Menschen wie möglich zu behandeln. Wenn jemand nicht die Behandlung bekommen kann, die er in Gaza benötigt, werden wir versuchen, Transfers zu organisieren.
Hat das IKRK freien Zugang zu Gaza?
Ja, wir haben sowohl zu Israel als auch zur Hamas in Gaza einen guten Draht. Auch unsere Partner vom Roten Halbmond konnten etwa am 14. Mai während der Demonstrationen problemlos an der Grenze arbeiten, um Verletzte und Tote zu bergen. Wir standen im ständigen Kontakt mit der israelischen Armee. Unser Vorteil ist es, dass das IKRK seit 1967 in der Region aktiv ist. Alle Akteure kennen uns und unsere Arbeit.
Und wie sieht die aktuelle Lage heute in Gaza aus?
In den letzten Tagen gab es keine palästinensischen Demonstrationen mehr und somit auch keine zusätzlichen Verletzten oder Toten. In den Spitälern ist die Situation aber nach wie vor angespannt. Bei rund 1350 Menschen mit Schussverletzungen stehen mehrere operative Eingriffe an. Die Situation kann sich aber wieder verschärfen. Die Raketenangriffe der letzten Tage und die israelische Antwort darauf – die Luftangriffe auf Ziele der Hamas im Gazastreifen – können sich ausweiten. Im schlimmsten Fall kann ein neuer Gazakrieg ausbrechen.
Wie muss man sich diesen Landstrich Gaza vorstellen, der kaum grösser ist als der Kanton Schaffhausen, aber mit zwei Millionen Einwohnern, die dort eingesperrt sind?
Was mich immer wieder frappiert, ist die unglaubliche Hoffnungslosigkeit der Bewohner in Gaza. Die zwei Millionen Menschen leben auf etwas weniger als 400 Quadratkilometern. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 60 Prozent, das Gesundheitssystem ist stets am Anschlag, und das Schwierigste ist: Die Leute sind dort zwar nicht am verhungern, aber ihnen fehlt jede Perspektive. Sie können ja nicht raus aus Gaza. Die Verzweiflung der Menschen führt denn auch immer wieder zu Gewaltausbrüchen, wie wir sie in den vergangenen Wochen erlebt haben.
Der Konflikt um Palästina dauert schon seit 70 Jahren. Glauben Sie persönlich daran, dass in der Region jemals Frieden einkehren wird?
Das Letzte, was wir jetzt aufgeben dürfen, ist die Hoffnung. In Kolumbien hat es schliesslich auch 50 Jahre gedauert, bis die Guerilla-Organisation Farc mit der Regierung Frieden geschlossen hat. Das hat lange niemand für möglich gehalten. Wenn der politische Wille da ist und die politische Konstellation stimmt, ist Frieden auch im Nahen Osten möglich. Im Moment ist man aber leider weit davon entfernt.