Worum geht es?
Die katalanische Regionalregierung in Barcelona will am 1. Oktober eine Volksabstimmung über die Abspaltung von Spanien durchführen. Regionalpräsident Carles Puigdemont (55) ist fest entschlossen, innerhalb von 48 Stunden die Unabhängigkeit auszurufen, sollte die Mehrheit der Stimmbürger ein Ja in die Urne legen.
Ihm gegenüber steht Spaniens Ministerpräsident Mariano Rajoy (62), der die Loslösung der wirtschaftsstarken Region unter keinen Umständen zulassen will. Schon die Abstimmung soll verhindert werden: Der Hardliner Rajoy liess Beamte verhaften, Millionen von Stimmzetteln einsammeln und will die Wahllokale bis am Sonntag schliessen.
Das Referendum vom Sonntag könnte Spanien in die grösste Verfassungskrise seit dem Ende der Franco-Diktatur vor 40 Jahren stürzen.
Was passiert am Sonntag?
Das spanische Verfassungsgericht hat das Referendum für ungültig erklärt – eine derartige Abstimmung verstosse gegen die spanische Verfassung. Mit dieser Begründung versucht die Zentralregierung um Rajoy auch, sie zu verhindern.
Sie entsendet 4000 Beamte der staatlichen Polizeieinheit Guardia Civil in die Region, um die dort stationierten staatlichen Sicherheitskräfte zu unterstützen. Zudem befahl Rajoy der Regionalpolizei Mossos d'Esquadra, die Wahllokale schon vor Sonntag abzusperren. Zudem sollen die Mossos der Guardia Civil unterstellt werden.
So wie es aussieht, will sich die Katalanen-Polizei nicht an die Weisung aus Madrid halten. Dies liess ihr Direktor am Mittwoch durchblicken. «Dass niemand sich irrt», postete Polizeichef Pere Soler i Campins auf Twitter. Die Aufgabe der Polizei sei, die Rechte der Bürger zu garantieren, «nicht deren Ausübung zu verhindern».
Auch andere Gruppierungen wehren sich gegen das Abstimmungsverbot: Die katalanische Feuerwehr hat angekündigt, die Wahllokale zu beschützen, um eine Abstimmung zu ermöglichen. Und Bauern, die im Vorfeld an Demos mit grossen Traktor-Kolonnen Präsenz markierten, wollen vor Ort sein.
Wieso will sich Katalonien von Spanien trennen?
Der Konflikt reicht zurück ins Jahr 1714, als die Katalanen im Spanischen Erbfolgekrieg unterlagen. Damit verloren sie ihre Eigenständigkeit. Ende der 1970er-Jahre erlangte die Region zwar Autonomierechte, doch die gehen vielen nicht weit genug.
Die heutigen Bemühungen gehen zurück auf den Sommer 2010. Das spanische Verfassungsgericht verbot den Katalanen, sich eine Nation zu nennen. Das führte zu riesigen Demonstrationen und verschaffte der Unabhängigkeitsbewegung grossen Zulauf.
Darauf haben sich viele katalanische Separatisten verbündet und Anfang September unter der Führung von Carles Puigdemont eine erneute Abstimmung beschlossen.
Was bedeutet die Region für Spanien?
Es geht einerseits um nationale Identität – aber auch um Geld. Die Katalanen stemmen ein Fünftel der spanischen Wirtschaftsleistung. Gleichzeitig fühlen sie sich von der Zentralregierung in Madrid benachteiligt. Sie würden 16 Milliarden Euro mehr an Steuern zahlen, als sie erhalten, argumentieren sie.
Das ist auf ein System zurückzuführen, das unserem nationalen Finanzausgleich ähnelt. Wirtschaftsstarke Kantone helfen dabei ärmeren Regionen.
Bei einer Trennung würde Spanien nicht nur wirtschaftlich leiden – sondern auch eine beliebte Touristenregion inklusive der Metropole Barcelona verlieren.
Will die Bevölkerung die Unabhängigkeit überhaupt?
Gemäss Umfragen tendiert eine knappe Mehrheit zwar zu einem Ja. Das ist jedoch nicht aussagekräftig, da viele der 5,4 Millionen Wahlberechtigten das Referendum boykottieren könnten.
Fest steht: Eine deutliche Mehrheit will das Recht auf eine Abstimmung. Mit ihrem harten Vorgehen könnte die spanische Regierung Unentschlossene auf die Seite der Separatisten treiben, sagen Experten.
2014 gab es eine ähnliche Situation wie heute. Damals akzeptierte die Regionalregierung ein Abstimmungs-Verbot aus Madrid, führte aber eine nicht bindende Umfrage durch. 80 Prozent sprachen sich damals für eine Loslösung von Spanien aus, doch die Wahlbeteiligung war tief. Ein Grossteil der Pro-Spanier blieben der Abstimmung aus Protest fern.
Falls sich das am Sonntag wiederholt, könnte das für die katalanische Regionalregierung zu einem Legitimitätsproblem führen – selbst wenn eine Mehrheit der Stimmenden ein Ja in die Urne legt.
Wie ginge es bei einer Abspaltung weiter?
Sollte die Abstimmung ein Ja ergeben, will Carles Puigdemont die Unabhängigkeit ausrufen. Gut möglich, dass er darauf verhaftet wird und sich vor Gericht für den Verfassungsbruch verantworten muss. Es würden ihm dann mehrere Jahre Gefängnis drohen. Zudem könnte die spanische Zentralregierung die Region Katalonien als Reaktion noch stärker unter ihre Fittiche nehmen.
Die katalanische Regionalregierung betont, auch bei einer Trennung von Spanien EU-Mitglied bleiben zu wollen. Brüssel steht aber auf der Seite der Zentralregierung in Madrid und hat angekündigt, Katalonien würde seine EU-Mitgliedschaft verlieren.
Eine Trennung dürfte anderen Unabhängigkeitsbewegungen in Europa Auftrieb geben: Die Venezier und Lombarden in Italien, die Flamen in Belgien, in Frankreich die Korsen und Bretonen – alle schauen gespannt nach Spanien.
Und dort beginnt es auch in einer anderen Region wieder zu brodeln. Im Baskenland gehen die Leute wieder auf die Strasse. Und die dortige Separatisten-Organisation ETA (die 2011 den bewaffneten Kampf aufgab) erklärte sich solidarisch mit Katalonien. In einer Erklärung heisst es: «Der spanische Staat ist ein Gefängnis für die Völker.»
Die aktuellen Ereignisse in Spanien verfolgen Sie im Katalonien-Newsticker.