In einer Ecke des Bahnhofs San Giovanni in Como (I) bildet sich eine Menschentraube. Sadig wird nervös. «Ich muss sehen, was da los ist», sagt der junge Mann aus dem Sudan und versucht, sich durch die Menge zu drängen.
Wenig später ist Sadig wieder da. «Die Helfer wollen nur Eritreer», sagt er enttäuscht. Doch Sadig irrt. Der Student aus der umkämpften Stadt Darfur ist 24 und damit zu alt, um Hilfe von der Organisation Firdaus zu bekommen. Ihr Augenmerk liegt auf unzähligen Minderjährigen, die in den letzten Wochen am Bahnhof San Giovanni und im Park vis-à-vis gestrandet sind.
Seit Anfang Juli ist Como Ziel zahlloser Flüchtlinge. Die einen wollen durch die Schweiz weiter nach Nordeuropa reisen. Die anderen wollen Asyl in der Schweiz. Doch in Como ist für sie derzeit Endstation. Die Schweizer Grenzwacht lässt sie nicht passieren.
Bettelarm und blutjung
«Comos Flüchtlinge sind bettelarm und blutjung», sagt Roberto Bernasconi (65), Chef der dortigen Caritas. Der Grossteil der Jugendlichen kann sich keine Schlepper leisten. «Für sie ist Como Endstation.» Bis zu 600 Menschen campieren derzeit im Park. Die meisten sind Eritreer, Äthiopier, Somalier. Viele Mütter mit kleinen Kindern und Schwangere sind darunter.
Sadig lebt seit zwei Wochen im Schatten der Kiefern. Fünfmal ist er mit dem Zug über die Grenze in die Schweiz nach Chiasso gefahren. Fünfmal haben ihn Beamte des Grenzschutzes wieder zurückgebracht – ohne, dass er einen Asylantrag stellen konnte, wie er sagt. «Sie nehmen deine Fingerabdrücke. Dann kommst du in eine Zivilschutzanlage. Dort gibt es ein Sandwich. Dann geht es zurück an die Grenze.» Einmal wurde Sadig in einem Bus zurück nach Mailand (I) gefahren. Dort harren derzeit über 3300 Flüchtlinge aus.
Die Menschentraube im Bahnhof wächst. Mittendrin steht eine junge Mitarbeiterin des Tessiner Hilfswerks Firdaus. Die ehrenamtliche Helferin sucht unbegleitete Minderjährige, die Angehörige in der Schweiz haben. Wer Verwandte vorweisen kann, erhält ein Formular. Das kann er der Schweizer Grenzwacht vorlegen, um Asyl zu beantragen.
Kein Passierschein
«Ein Passierschein ist es nicht», sagt die Tessiner SP-Abgeordnete und Firdaus-Gründerin Lisa Bosia Mirra (43). «Die meisten dieser Jugendlichen werden trotz ihres jungen Alters und Verwandtschaft in der Schweiz wieder an die italienische Grenze gestellt.»
Die minderjährigen Flüchtlinge, die sich um die ehrenamtliche Helferin drängen, halten Zettel mit Namen und Schweizer Handynummern in den Händen. «Wir prüfen, ob die sogenannten Verwandten auch wirkliche Angehörige sind», sagt die Helferin von Firdaus, «erst dann geben wir die ausgefüllten Formulare weiter.»
Bahnsteig Nummer eins. Hier halten die Züge nach Chiasso TI. Mharat (16) und ihre Halbschwester Samrawit (15) haben eine dicke Steppdecke gefunden und sich darin eingehüllt.
Per Schlepperschiff nach Italien
Ihre Reise begann vor drei Monaten. Sie verliessen Eritrea, durchquerten den Sudan, die Sahara. Von Libyen fuhren sie mit einem Schlepperschiff nach Italien. Die Küstenwache brachte sie nach Kalabrien. Vor zwei Tagen erreichten sie Como. Ihr Ziel, die Schweiz, liegt nur noch wenige Kilometer entfernt.
Die Eritreerinnen bekommen vom Zirkus in der Bahnhofshalle nichts mit. Einen Zettel mit einem Namen haben auch sie. Eine Schweizer Handynummer steht darauf. Bruder Abdla (22) wartet in einem Glarner Asylbewerberheim.
Heute soll es nach Chiasso TI gehen. Die Schwestern packen ihren Rucksack. Die Decke bleibt liegen. Für den nächsten Flüchtling. Abdirahma (16) und Muhammed (16) aus Somalia wollen mit. Muhammed hat einen Bruder in Genf. Auch Kidane (15) aus Eritrea und der Somalier Abdulrahman (19) steigen ins Abteil. Gepäck haben die Jungs keines.
Muhammed spricht ein paar Brocken Englisch, Abdirahma etwas Arabisch. Die Mädchen können keine Fremdsprache. Mharat schaut verträumt aus dem Fenster, wo die Landschaft vorbeirauscht. Zur Schule möchte sie gehen. Das sei das Wichtigste, lässt sie uns wissen.
Raus hier!
Der Zug rollt in Chiasso ein. Mit aufgerissenen Augen blicken die Flüchtlinge auf den Bahnsteig. Ein Schweizer Grenzbeamter mit Polizeihund reisst die Schiebetür des Abteils auf. Er trägt eine Sonnenbrille. Das Gesicht ist hart, die Handbewegung eindeutig. Raus hier!
Kidane versucht sich noch zwischen zwei Sitzbänken zu verstecken. Zwecklos. Auch er wird aus dem Abteil geführt. Die hübsche Samrawit schaut uns flehend an, während die Grenzwacht den kleinen Trupp ins Freie befördert.
Zwei Stunden, solange dauert der Traum von der Zukunft in der Schweiz. Die Gruppe wird unverzüglich wieder nach Italien geschafft. Die Kids haben kein Asyl beantragen dürfen. Sie sind am Abend bereits wieder am Bahnhof San Giovanni.
«Idomeni» von Como
Dort hat Muhammed ein Formular von Firdaus ergattert. Endlich. Als eine politische Delegation am Freitag das «Idomeni» von Como besucht, nutzt der Somalier die Gunst der Stunde. Beherzt tritt er an Marina Carobbio (50) heran, zeigt ihr seinen «Ausweis». Die SP-Nationalrätin weiss keinen rechten Rat. «Am besten wendet sich Muhammed im Moment an die zuständige Pfarrgemeinde in Como, bis eine bessere Lösung gefunden wird.» Ob diese in der Schweiz sein wird?