Das Bild wackelt, wie aus weiter Ferne aufgenommen. Zu erkennen ist ein Militärfahrzeug in Bewegung, das Fadenkreuz folgt ihm. Sekunden später fliegt das Ziel in die Luft.
Das Video zeigt offenbar die ukrainische Attacke auf ein russisches Objekt. Unterlegt ist das Ganze mit dramatischer Musik, und in der Überschrift heisst es voll bitterer Ironie: «Wir grüssen die Invasoren.»
Unzählige solcher Filmaufnahmen von der Front fluten Tag für Tag das Netz. Manche wirken wie Amateuraufnahmen, andere kommen in offiziöser Manier mit einem Emblem der ukrainischen Streitkräfte daher.
Dem Betrachter werden überwiegend Flug- und Panzerabwehrwaffen im Einsatz gezeigt, manchmal auch Schüsse mit dem Sturmgewehr. Dazwischen erscheinen gestellte Aufnahmen: Kämpfer, die für die Kamera posieren. Heldenpathos und blau-gelbe Verheissung.
Zu finden ist das Material online auf Telegram und Tiktok sowie auf einem eigens dafür eingerichteten Kanal bei Reddit.
Das Ziel der Absender ist offensichtlich: Die Ukrainer sollen im Kampf gegen die russischen Aggressoren Stärke und Siegesmut beweisen.
Die Kampagne wirkt. In der westlichen Öffentlichkeit dominieren Erfolgsmeldungen der Ukrainer, wie das Publikum sie wünscht. Den tatsächlichen Kriegsverlauf erfährt man auf diesen einschlägigen Foren nicht.
Böse Orks
Zentral ist stattdessen das Framing, die öffentliche Bewusstseinsbildung: Längst ist zum Beispiel «Slava Ukraini», was auf Deutsch etwa «Ruhm der Ukraine» oder «ein Hoch auf die Ukraine» bedeutet, im Westen zum allseits bekannten Kampfspruch geworden. Selbst EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beendete ihre Rede am 4. Mai mit den Worten «Slava Ukraini and long live Europe» – Ruhm der Ukraine und lang lebe Europa!
Die Russen hingegen sind auf den besagten Kanälen die Orks, in Anlehnung an die gruselig-dumpfen Bösewichte in J.R.R. Tolkiens Epos «Herr der Ringe». Auch der Begriff des «Rashists», der Raschisten, beginnt sich allmählich zu etablieren. Es ist ein Kofferwort aus Russen und Faschisten, die Botschaft dahinter ist klar: Der neue Faschismus regiert nicht in Kiew oder Berlin, sondern in Moskau.
Zwar haben Putins Truppen die Stadt Mariupol unter ihre Kontrolle gebracht – die ukrainische Gegenkampagne zur antifaschistischen Rhetorik des Kremls ist dafür umso erfolgreicher. Die Verteidiger kämpfen im Informationskrieg mit bemerkenswerter Professionalität.
Selenski hielt 150 Reden
Bleibt die Frage, wie organisiert diese wie geölt wirkende PR-Maschinerie ist. Ist das bloss die Schwarmintelligenz einzelner Protagonisten – oder zentral aus Kiew gesteuert?
Klar ist, dass die Videos von Soldaten an der Front aufgenommen worden sind. Naheliegend auch, dass dies nicht ohne grünes Licht der Offiziere geschieht. Und schliesslich muss eine digitale Lieferkette zu den westlichen Portalen bestehen. Auffallend, dass auch die offiziellen Regierungsstellen in Kiew ihre eigene Social-Media-Kanäle mit Material bespielen.
Wolodimir Selenski (44) selbst geht mit bestem Beispiel voran: Der Präsident hat seit Kriegsbeginn 150 Reden gehalten. Die «Süddeutsche Zeitung» wertete sie akribisch aus und zeigt, wie die Auftritte rhetorisch gezielt mit positiv besetzten Begriffen auf den Empfänger abgestellt werden.
Im Marketing ist Selenski Profi: Diese Woche hat er sich sogar in die Glamourwelt des Filmfestivals von Cannes eingeschaltet und die Rolle des Spielfilms im Kampf gegen Diktaturen gewürdigt.
Wer dieser Tage einem Anlass Gewicht verleihen möchte, schaltet Selenski zu.
Geschwächter Putin
Im krassen Gegensatz dazu steht Wladimir Putin (69): Der Nimbus der russischen Softpower ist mit dem 24. Februar zusammengebrochen.
Noch vor wenigen Jahren traute man dem Kreml zu, mit der Manipulation von Facebook und Co. die Wahl des US-Präsidenten bestimmen zu können. Die Bilder von festgefahrenen russischen Panzern, die wöchentlich wachsende Liste von getöteten russischen Offizieren und die Berichte über die katastrophale Logistik von Putins Armee haben den russischen Bären als Scheinriesen entlarvt.
Auch von den viel beschworenen russischen Hackern redet heute niemand mehr. Und Putins vormalige Freunde, von Donald Trump (75) bis zu Marine Le Pen (53), werden ganz kleinlaut, wenn es um das Thema Ukraine geht.
Der gern im Anzug auftretende russische Präsident gibt dem Westen mit sichtlich aufgedunsenem Gesicht Anlass zu Spekulationen über seinen Gesundheitszustand. Sein Widersacher Selenski hingegen ist im olivgrünen Shirt zum jugendlich-vitalen Helden mutiert.
Der US-amerikanische Verlag Tidal Wave Productions hat diese Woche einen Comicband über den ukrainischen Staatschef angekündigt. Über Putin hingegen gibt es keine Comics. Dafür benennen Bäckereien ihren Russenzopf in Friedenszopf um.
Wie auch immer der Krieg ausgehen wird: Den Informationskrieg im Westen – so viel steht fest – haben die Ukrainer schon gewonnen.