Ocean Viking rettet Flüchtlinge im Mittelmeer
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Reportage von der Mission:Ocean Viking rettet Flüchtlinge im Mittelmeer

Die Ocean Viking birgt Flüchtlinge im Mittelmeer
Auf Rettungsmission an der tödlichsten Grenze der Welt

Schlagzeilen macht anderes. Doch im Mittelmeer sterben wieder mehr Migranten. Europa ist derweil kaum noch auf dem Meer präsent. Ausser ein paar Idealisten auf Booten, wie der Ocean Viking. Die Reportage.
Publiziert: 17.10.2021 um 11:22 Uhr
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Die Ocean Viking unterstützt die Bergung eines mit Flüchtlingen besetzten Bootes in Seenot, wenige Kilometer südlich von Sizilien.
Foto: Sebastian Sele
Sebastian Sele

Tanguy* hört, wie das Baby anfängt zu schreien. Es hört lange Zeit nicht damit auf. Und er ist zufrieden. Knapp eine Stunde zuvor sass der ehemalige Soldat noch ganz vorne, am Bug der Ocean Viking. Schweigend. Das Fernglas an seinen Augen. Irgendwo dort draussen schwamm, was er suchte. Der Bug schnitt durch mit Schaum gekrönten Wellen. Und plötzlich erwachte Tanguy aus der Starre. «Ich glaube, ich sehe Menschen», sagte er, stand auf und drückte auf die Taste seines Funkgerätes: «Bereit zum Einschiffen.» Sein Team weiss: Jetzt geht es um alles oder nichts. Um Leben und um Tod.

Wenig später sind sie draussen, bei einem blauen Holzboot. «Mein Name ist Tanguy!», ruft er den Menschen an Bord zu. Und dass sie ihm das Baby geben sollen. Sie reichen ihm das wenige Monate junge Kind. Tanguy greift es und hebt es in sein Schnellboot. Er ist zufrieden. Die Rettung, sie wird gelingen. 25 Menschen sind in Sicherheit.

129 Menschen gerettet in 36 Stunden

Drei Mal werden Tanguy und die Crew des Seenotrettungsschiffes Ocean Viking von SOS Méditerranée das Manöver in den nächsten 36 Stunden wiederholen. Sie werden weitere 104 Menschen aus Seenot retten.

Wenn es um Migration nach Europa geht, sorgen derzeit andere Regionen für Schlagzeilen. Die Europäische Union hat mit Gewalt an ihren Aussengrenzen zu kämpfen – kürzlich erst in Kroatien, wo Polizisten Jagd auf Migranten machten und sie verprügelten. Im Mittelmeer sterben die Menschen. Obwohl allein SOS Méditerranée in dieser Zeit mehr als 34 000 Menschen geborgen hat: Seit 2014 haben mehr als 22 700 Migranten beim Versuch, übers Mittelmeer nach Europa zu kommen, ihr Leben verloren. Über 1300 Menschen waren es in diesem Jahr, 1100 davon im zentralen Mittelmeer. Das sind rund vier pro Tag und deutlich mehr als im letzten Jahr. Und die Zahlen dürften weiter steigen: Corona und auch die Klimakrise tragen dazu bei, dass mehr Menschen ihre Heimat verlassen. Sie landen oft zuerst in Libyen und dann hier, auf dem Mittelmeer.
An Bord der Ocean Viking sind jene, die Glück hatten. Da ist Abdullahi, der Geograf aus Nigeria. Da sind Khairi und Farah, der Beamte und die Lehrerin aus Libyen. Da ist Firas, der Coiffeur aus Syrien, der in die Schweiz möchte. Und 125 andere Gerettete, die wenig gemeinsam haben, bis auf die Hoffnung nach einem besseren Leben, die sie in Libyen auf hohe See getrieben hat.

Abdullahi sitzt angelehnt an einen weissen Container. Hinter ihm liegen Decken. Eine davon wird in den nächsten Tagen sein Bett sein. Der Container sein Zuhause. «Ich bin überglücklich», sagt der 37-jährige Nigerianer. Neun Stunden waren Abdullahi und die 24 anderen bereits mit dem blauen Boot. Rund 60 Kilometer hatten sie zwischen sich und die libysche Küste gebracht. Dann bemerkten sie: Das Holz am Motor beginnt sich zu lösen. «Wären wir noch 20 Minuten weitergefahren», sagt Abdullahi, «wären wir gesunken.» Die italienische Insel Lampedusa lag noch rund 250 Kilometer entfernt. Doch selbst mit intaktem Boot: Die Richtung, die das Boot eingeschlagen hatte, führte an der Insel vorbei.
Dabei hatte Abdullahi gar nie nach Europa gewollt. Der Nigerianer brach, wie so viele, von zu Hause auf, um von Libyen aus für seine Familie zu sorgen. Er nahm sein Abschlusszeugnis mit, Geografie und Informatik. Und er musste feststellen: «Libyen funktioniert nicht so.» Nicht für Menschen wie ihn. «Für Libyer sind wir Schwarze wie Tiere», sagt er. Er musste für wenig Geld schuften und darauf hoffen, nicht erschossen zu werden.

Europa hat Grenzschutz ins Mittelmeer ausgelagert

Vor drei Monaten erwischte es auch ihn: Er wurde entführt. Umgerechnet 300 Franken betrage das Lösegeld, wenn man Glück habe, sagt er. 3000 Franken, wenn man Pech habe. Er hatte Glück: «Meine Familie konnte zahlen.» Danach entschied sich Abdullahi für das Meer. 1000 Franken zahlte er den Schleppern für die Überfahrt nach Europa. Andere zahlten das Doppelte.

Die 25 Menschen in den weissen Containern der Ocean Viking tragen Narben. Sichtbare. Von Schlägen auf Gelenke. Von Elektroschocks und Ammoniak-Verätzungen. Und Unsichtbare. Von Vergewaltigungen. Von Entführungen. Von Missbräuchen.

Europa hat seinen Grenzschutz im Mittelmeer ausgelagert. Nach Libyen zum Beispiel. Von den Methoden der libyschen Küstenwache zirkulieren Videos. Eines zeigt Beamte, die auf offenem Meer auf die Menschen in den Booten schiessen, anstatt sie zu retten. Europa finanziert die libysche Küstenwache und arbeitet über die Grenzschutzagentur Frontex eng mit dieser zusammen. Inzwischen fangen die Libyer jeden zweiten Migranten ab, der das Land in Richtung Norden verlassen möchte. Mehr Menschen als jemals zuvor werden in die Lager zurückgebracht. Selbst die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen hat sich kürzlich aus diesen zurückgezogen, weil die Zustände unhaltbar seien.

Immer wieder wiederholt Abdullahi dieselben zwei Sätze: «Die Reise übers Meer ist wie Suizid zu begehen, ohne sterben zu wollen.» Und: «Ihr seid für uns wie Engel.»

Auf einer der Decken neben Abdullahi legt sich eine Nacht später auch Khairi schlafen. «Ich hatte einen guten Job», erzählt der studierte Diplomat. «Ich hatte viel Geld, eine Farm und ein Haus.» Er hatte ein Leben. Und trotzdem ist auch der Libyer jetzt hier, in einem der weissen Container auf der Ocean Viking, mit vier seiner Kinder und seiner Ehefrau Farah, einer Lehrerin.

Das reiche Libyen, in dem Khairi und Farah gross geworden sind, existiert nicht mehr. Libyen ist heute zerrissen. Jahrelang kämpfte die Regierung gegen die Milizen. Die Islamisten gegen die Bevölkerung. Und dazwischen waren die Söldner der Russen, die Waffen der Türken und die militärische Abwesenheit des Westens. Auch wenn die Waffen seit 2020 offiziell ruhen: «Die Gewalt ist überall», sagt Farah. «Libyen besteht fast nur noch aus Milizen.» Habe sie morgens ihre Stadt Zuwara verlassen, wusste sie nicht, ob sie abends wieder zurückkehren würde. Dachte Farah an die Zukunft, dachte sie daher vermehrt an Fragen wie: Was, wenn die Kinder sich an die Brutalität gewöhnen? Was, wenn sie irgendwann selbst Teil der Brutalität werden?

Immer wieder habe die Familie versucht, die Heimat mit dem Flugzeug zu verlassen. Aber als Libyer ein Visum zu bekommen: «Unmöglich», sagt Khairi. Also taten sie, was sie tun konnten. Sie fanden andere Familien, die ihre Sorge teilen. Sie besorgten sich ein Boot. Informierten sich über die Navigation auf See. Und eine Nacht vor dem Vollmond im September fuhren die Männer, Frauen und Kinder aus Zuwara zusammen aufs Meer.
«Ich habe die Leichen am Strand von Zuwara gesehen», sagt Farah. Für die Menschenhändler sind es Kollateralschäden. «Ich möchte Kinder, die anständig sind, gebildet und empathisch», sagt Farah. Nicht wie die Milizen ausserhalb von Zuwara, nicht wie die Menschenhändler in Zuwara. «Meine Kinder sollen ein Leben führen können, auf das sie stolz sind.»

Wegen Wirtschaftskrise im Libanon geflohen

«Auf dem Meer überkam mich ein Gefühl, das ich nie zuvor hatte», sagt Firas. Ein Gedanke nistete sich im Kopf des syrischen Coiffeurs ein: «Vielleicht verlieren meine Kinder heute ihren Vater.» Die ganze Hoffnung, die er bisher in sich trug, war weg.

2011, als die syrische Armee seine Heimatstadt Homs zerstörte, floh Firas in den benachbarten Libanon und baute sich ein zweites Leben auf. Er traf eine Frau, die er liebte, und die beiden bekamen eine Tochter. «Wir hatten ein normales, glückliches Leben», sagt er. An den Wochenenden grillierten sie, besuchten Vergnügungsparks. Dann begann der Niedergang seiner neuen Heimat. Der Libanon stürzte in eine der weltweit schlimmsten Wirtschaftskrisen seit 1850. Windeln, Milch und Medikamente wurden knapp. Dann auch der Strom, das Benzin und die Perspektiven. «Nach Libyen zu gehen, war für mich die einzige Chance», sagt Firas.

Die Selfies, die er seiner Frau bald schickte, vermittelten keine Hoffnung. Wochenlang schlief er auf dem Boden eines Rohbaus ohne Fenster. Er wusste: Was bleibt, ist das Meer. «Die Wahrscheinlichkeit, dass die Überfahrt klappt, lag vielleicht bei einem Prozent», sagt Firas auf der Ocean Viking. «Aber das ist mehr als null Prozent.» In Syrien wartete bloss der Krieg. Im Libanon die Armut. Seine Eltern und Geschwister in der Schweiz haben ihn seit neun Jahren nicht mehr gesehen.

Malta reagiert nicht mal auf Hilferufe

Wie wenig ein Prozent ist, bekam Firas bald zu spüren. Der Schlepper, der den Motor seines Bootes steuern sollte, sprang wenige Hundert Meter nach der Abfahrt von Bord. Die libysche Küstenwache stoppte sie mit gezückten Waffen und schickte sie aufs Meer hinaus, nachdem sie den Namen des Schleppers genannt hatten. Das Benzin im Boot ging zur Neige, Salzwasser drang ein. Doch nach 20 Stunden sah Firas ein Schiff mit einer europäischen Flagge. Er lachte. Und er schoss ein Selfie.

«Ich wünsche mir nichts Grosses für meine Familie», sagt er. «Ich möchte keine Villa oder ein grosses Auto, nur etwas Sicherheit und Bildung.» Dass er irgendwann zurückblicken könne und erkenne: Es hatte alles einen Sinn. Der Rohbau in Libyen. Die Todesangst auf dem Meer.
Fünf Tage sind Firas und Abdullahi, Khairi und Farah auf der Ocean Viking. Die Seenotretter müssen warten, bis ihnen die maltesischen oder italienischen Behörden einen sicheren Hafen zuweisen. Doch die Malteser beantworten nicht einmal ihre Telefonanrufe. Erst im Hafen von Augusta, Sizilien, können die Geretteten von Bord. Vor einem Berg von Schrott haben die Behörden dort ein Zelt zur Registrierung aufgestellt. «Ist das ein sicherer Hafen?», fragt Khairi.

Das Meer haben sie überlebt. Jetzt wartet das europäische Asylsystem. l

Mitarbeit: Maram Alsalehi
* Seit einem Angriff von Rechtsextremen auf ihr Hauptbüro in Marseille verzichtet SOS Méditerranée darauf, die vollen Namen ihres Personals zu veröffentlichen.

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