Aufgeregt erzählt eine Stimme inmitten von Staubwolken und durch die Naturgewalt zerstörten Gebäuden, was geschehen ist, während andere Menschen erschrocken auf die Strasse laufen.
Die US-Behörde USGS gab die Stärke des Bebens von Samstagmorgen mit 7,2 an. Der Nationale Wetterdienst der USA (NOAA) gab nach dem Erdbeben zunächst eine Tsunami-Warnung heraus - hob diese aber kurze Zeit später wieder auf. Bei vielen teils starken Nachbeben verbrachten zahlreiche Menschen nach Berichten in sozialen Medien die Nacht auf Sonntag im Freien.
Schnell kommen in Haiti Erinnerungen an eine frühere Katastrophe hoch. «Die Gefühle vom 12. Januar 2010 sind wieder da und jagen uns», schreibt der Botschafter Haitis in den USA, Bocchit Edmond, auf Twitter. «Naturkatastrophen verfolgen Haiti weiter.»
Katastrophen gibt es viele in dem Karibikstaat, auch politisch ist die Lage äusserst angespannt - erst Anfang Juli war Staatspräsident Jovenel Moïse in seiner Residenz ermordet worden. Und die Narben des verheerenden Erdbebens von 2010 mit mehr als 220 000 Todesopfern sind noch frisch und vielerorts sichtbar. Mehr als eine Million Menschen verloren ihr Zuhause.
Die Region im Süden Haitis, in der das Zentrum des neuen Bebens liegt, wurde zudem bereits 2016 von Hurrikan Matthew schwer getroffen - mehr als 500 Menschen starben damals. Jetzt gibt es nach ersten Zahlen von Haitis Zivilschutzbehörde mindestens 304 Tote und mehr als 1800 Verletzte. Rettungskräfte und Bürger hätten zahlreiche Menschen aus den Trümmern geborgen. Bilder zeigen eingestürzte Wohnhäuser, Hotels, Schulen, Kirchen.
Menschen seien darunter begraben, berichtete ein Augenzeuge aus Les Cayes, einer der grössten Städte des Landes, dem Onlineportal «Haiti Press Network». Mehrere Kinder wurden «HPN» zufolge in einer Kirche getötet, als eine Taufe abgehalten wurde.
Bewohner des Departments Nippes, in dem das Epizentrum des Bebens lag, sendeten laut «Gazette Haiti» einen SOS-Ruf an die Behörden, weil die Krankenhäuser überlastet seien.
Mehr als fünfzig Ärzte des allgemeinen Krankenhauses in Port-au-Prince machten sich auf den Weg, um medizinische Hilfe zu leisten, wie «Le Nouvelliste» berichtete. Nicht nur, dass dem Internationalen Roten Kreuz zufolge auch Krankenhäuser beschädigt wurden - der Zugang zum Süden ist durch gewalttätige Banden abgeschnitten, die in der Hauptstadt um Kontrolle über Gebiete kämpfen. «Die Logistik wird ein Thema», sagte die Landesdirektorin der Welthungerhilfe für Haiti, Annalisa Lombardo, der Deutschen Presse-Agentur.
Das ganze Ausmass der Zerstörung wird sich wohl erst im Laufe der Bergungsarbeiten in den nächsten Tagen zeigen. «Eins ist ganz klar, wir befinden uns inmitten einer humanitären Notlage», sagte Leila Bourahla, Landesdirektorin der Kinderhilfsorganisation Save the Children in Haiti.
Schon naht auch das nächste mögliche Ungemach: Tropensturm «Grace» ist in Richtung Haiti unterwegs. «Er könnte die gleichen Gegenden treffen, die vom Erdbeben getroffen wurden», warnte das Internationale Rote Kreuz, das bei Such- und Rettungsarbeiten in der besonders betroffenen Region im Einsatz ist.
Das Beben war diesmal mit 7,2 noch etwas stärker als der Vorgänger von 2010, der mit 7,0 gemessen wurde. Das Zentrum lag damals allerdings nahe der dicht besiedelten Hauptstadt Port-au-Prince. Die grösste Stadt im am schlimmsten betroffenen Gebiet ist diesmal Les Cayes, 200 Kilometer entfernt, mit weniger als 100 000 Einwohnern.
Es ist, als laste ein Fluch auf Haiti. Das erste unabhängige Land der Karibik schlittert heute von einer Katastrophe in die nächste. «Es fühlt sich an, als hätten wir einfach nur Pech», schrieb die japanische Tennisspielerin Naomi Osaka, deren Vater aus Haiti stammt, bei Twitter. Sie kündigte an, ihr Preisgeld ihres nächsten Turniers für Hilfsarbeiten in Haiti zu spenden.
Erste Hilfslieferungen aus dem Ausland, etwa aus den USA, sind angekündigt worden. Von dem vielen Geld, das nach dem Beben von 2010 für den Wiederaufbau aus dem Ausland zugesagt worden war, sahen durchschnittliche Haitianer nur wenig. Zum schlechten Ruf der internationalen Gemeinschaft trugen auch die Blauhelme der UN-Stabilisierungsmission Minustah bei, die 2004 nach einem Putsch kamen und bis 2017 blieben. Sie lösten einen Cholera-Ausbruch aus und wurden zahlreicher Sexualverbrechen beschuldigt.
Die Haitianer wollten keine internationale Gemeinschaft, die vorschreibe, was Haiti brauche, sagte die Aktivistin und Schriftstellerin Monique Clesca nun der britischen «BBC». «Wir wollen würdige Unterstützung, die sich danach richtet, was wir wollen und brauchen, zu unseren Bedingungen - dass unsere Würde und Souveränität respektiert werden.»
(SDA)