Sea Eye hat schon über 14'000 Flüchtlinge gerettet
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Letzte Kämpfer für Flüchtlinge:Sea Eye hat schon über 14'000 Flüchtlinge gerettet

Die letzten Retter auf dem Mittelmeer warnen
«Tausende könnten sterben»

Nur zwei Rettungsschiffe sind im Mittelmeer und in Libyen eskaliert die Gewalt. Was passiert, wenn nun hunderttausende von Menschen flüchten? SonntagsBlick hat mit Gorden Isler (36) von der Seenotrettung-Organisation «Sea-Eye» gesprochen.
Publiziert: 20.04.2019 um 23:57 Uhr
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Dieses Boot mit 64 Menschen wurde am 3. April auf dem Mittelmeer gerettet.
Foto: Sea-Eye
Aline Wüst
Aline WüstReporterin SonntagsBlick

Manuel (6) wurde Anfang April auf dem Mittelmeer gerettet. Von einem Schiff der deutschen NGO Sea-Eye. Das Schiff trägt den 
Namen «Alan Kurdi». Es ist nach dem Buben benannt, der 2015 tot an einem Strand in der 
Türkei lag. Alan Kurdi wäre mittlerweile ebenfalls sechs Jahre alt.

Als die Sea-Eye-Crew das Boot mit den 64 Menschen entdeckte, auf dem auch Manuel sass, suchte sie eigentlich ein anderes Boot. Dieses hatte einen Notruf abgesetzt. 50 Menschen waren darauf, darunter drei Kinder. Niemand rettete diese Menschen, sie kamen nirgendwo an. Sie verschwanden im Meer.

SonntagsBlick hat mit Gorden Isler (36) von Sea-Eye über die Situation auf dem Mittelmeer 
gesprochen.

Herr Isler, in Libyen ist Krieg. Es ist von bis zu einer Million Flüchtlingen die Rede, die nun nach Europa kommen könnten. Wie schätzen Sie das ein?
Gorden Isler:
Die Kriegshandlungen könnten nochmals zu 
einer ganz anderen Dramatik führen.

Warum?
Die staatliche Seenotrettung der EU wurde im Prinzip eingestellt. Und die libysche Küstenwache nimmt ihre Aufgabe nicht wahr. Zivile Rettungsschiffe wiederum werden am Auslaufen gehindert. Und unser Schiff «Alan Kurdi» muss nun in die Werft.

Was heisst das?
Es ist zu befürchten, dass in den kommenden Monaten Tausende sterben. 2014, als es die italienische Seerettung Mare Nostrum gab, waren 26 Schiffe im Einsatz und trotzdem ertranken 5000 Menschen.

Wie viele Rettungsschiffe sind noch auf dem Mittelmeer?
Aktuell ist noch ein einziges Schiff da draussen. Und die Regierung Italiens setzt sich tatsächlich an einen Tisch – und statt Themen wie Rente oder Gesundheit zu besprechen, berät sie darüber, wie sie auch dieses Schiff noch davon abhalten kann, Menschenleben zu retten.

Italien lässt keine Migranten mehr an Land.
Italien fährt einen brutalen Kurs gegen Migranten. Wir sehen nun, was passiert, wenn wir in Europa Länder mit solchen Herausforderungen jahrelang allein lassen. Es ist ein gemeinsames, europäisches Versagen.

Was tun?
Wir brauchen schnell eine europäische Marineoperation, die darauf ausgerichtet ist, Menschenleben zu retten – und zwar egal, aus welchem Grund sie da hineingeraten sind. Dafür braucht es keinen demokratischen Konsens. Das ist gesetzlich geregelt. Fährt auf der Nordsee ein betrunkener Segler rum, diskutiert auch keiner darüber, ob er sich absichtlich in Seenot gebracht hat und man ihn retten soll.

Sie ärgern sich.
Wir retten Menschen in Not. Was danach mit ihnen passiert, ist eine politische Frage. Das muss man nicht mit uns diskutieren. Dafür werden die Politiker bezahlt. Man diskutiert doch auch nicht mit einem Arzt, der gerade einen Patienten am Herz operiert, ob dieser anderen Menschen in Zukunft vielleicht etwas Böses tut. Oder ob es überhaupt Sinn macht, ihn zu operieren, weil er schon 70 Jahre alt ist.

Warum diskutiert Europa, statt zu handeln?
Weil die europäischen Länder unfähig sind, diese Herausforderung gemeinsam anzugehen. Wenn es darum geht, Banken zu retten, finden wir innerhalb von Tagen Lösungen. Milliarden werden aus dem Hut gezaubert. Bei 64 Migranten braucht Europa elf Tage, um zu entscheiden, wo sie an Land dürfen.

Sie machen trotzdem weiter?
Ja! Denn wären wir vor drei Wochen nicht da gewesen, wären Manuel und die 63 anderen Menschen einfach im Mittelmeer verschwunden. 

Das Gedicht von Tesfalidet

Als Tesfalidet Tesfom 2018 im Mittelmeer gerettet wurde, wog er noch 35 Kilo. Dem ita­lienischen Arzt erklärte er, warum: «Libyen! Schrecklich!» Einen Tag nach seiner Ankunft starb Tesfom. In seinen Habseligkeiten fand eine Polizistin zwei handgeschriebene Gedichte. Sie gab sie mir, als ich für eine Reportage in Sizilien war – eines davon liess ich übersetzen. Die Worte sind an uns alle gerichtet.  

Keine Angst, mein Bruder
Vielleicht bin ich nicht dein Bruder, und es ist dir egal
Ist es wirklich so schön, alleine zu leben?
Deinen Bruder in Zeiten der Not zu vergessen?
Ich suche nach Antworten, habe das Gefühl zu ­ersticken
Schlage «Blinden Alarm», denn ich brauche Hilfe
Sie lasten schwer, diese einstweiligen Probleme, die ich mit mir trage
Bitte, meine Brüder, versucht mich zu verstehen
Ich wende mich an dich, weil du mein Bruder bist
Bitte, hilf mir
Wieso bin ich dir egal, bin ich etwa nicht dein ­Bruder?
Keine Hilfe, niemand, der mich tröstet
Man kann vor lauter Schwierigkeiten erschöpft sein
Aber deinen Bruder zu vergessen, macht dir ­keine Ehre
Die Zeit verfliegt voller Bedauern
Es ist besser, einen Bruder zu haben;
sag bloss nicht, du hast dich für dich entschieden
In dieser Welt bestehst du, wenn du hast und wenn du bist
Mit deinen falschen Versprechen
Und ich, immer auf der Suche nach dir
Wärst du so grausam gewesen, wären wir vom selben Blut?
In diesem Augenblick habe ich nichts, denn ich habe nichts gefunden
Aber meine Geduld bedeutet nicht, dass ich satt bin
Denn jeder wird die Belohnung erhalten, die er verdient
Ich werde siegen und mich dem Schöpfer hingeben

(wua)

Als Tesfalidet Tesfom 2018 im Mittelmeer gerettet wurde, wog er noch 35 Kilo. Dem ita­lienischen Arzt erklärte er, warum: «Libyen! Schrecklich!» Einen Tag nach seiner Ankunft starb Tesfom. In seinen Habseligkeiten fand eine Polizistin zwei handgeschriebene Gedichte. Sie gab sie mir, als ich für eine Reportage in Sizilien war – eines davon liess ich übersetzen. Die Worte sind an uns alle gerichtet.  

Keine Angst, mein Bruder
Vielleicht bin ich nicht dein Bruder, und es ist dir egal
Ist es wirklich so schön, alleine zu leben?
Deinen Bruder in Zeiten der Not zu vergessen?
Ich suche nach Antworten, habe das Gefühl zu ­ersticken
Schlage «Blinden Alarm», denn ich brauche Hilfe
Sie lasten schwer, diese einstweiligen Probleme, die ich mit mir trage
Bitte, meine Brüder, versucht mich zu verstehen
Ich wende mich an dich, weil du mein Bruder bist
Bitte, hilf mir
Wieso bin ich dir egal, bin ich etwa nicht dein ­Bruder?
Keine Hilfe, niemand, der mich tröstet
Man kann vor lauter Schwierigkeiten erschöpft sein
Aber deinen Bruder zu vergessen, macht dir ­keine Ehre
Die Zeit verfliegt voller Bedauern
Es ist besser, einen Bruder zu haben;
sag bloss nicht, du hast dich für dich entschieden
In dieser Welt bestehst du, wenn du hast und wenn du bist
Mit deinen falschen Versprechen
Und ich, immer auf der Suche nach dir
Wärst du so grausam gewesen, wären wir vom selben Blut?
In diesem Augenblick habe ich nichts, denn ich habe nichts gefunden
Aber meine Geduld bedeutet nicht, dass ich satt bin
Denn jeder wird die Belohnung erhalten, die er verdient
Ich werde siegen und mich dem Schöpfer hingeben

(wua)

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