Charij ist nicht leicht zu finden. Es liegt abseits der grossen Strassen, abseits der Metropolen Agadir und Taroudannt. Auf staubigen und kurvigen Landstrassen, gesäumt von Dornsträuchern und Geröll, taucht die Moschee des Ortes unvermittelt auf. Dazu ein paar Lehmhäuser unter der prallen Wüstensonne. Kaum Menschen in den engen Gassen, es riecht nach Schafen und verbranntem Holz. Der Staub der Sahara färbt den Himmel bereits zur Mittagszeit ockerfarben.
Es ist der Geburtsort von Moestafa K.* (27), dem abgewiesenen Asylbewerber, der das Rechtssystem der Schweiz zum Narren hält. Hier soll der Mann aufgewachsen sein, der seit 2016 die Schweiz verlassen sollte, aber immer wieder untertaucht – und nicht ausgeschafft werden kann.
Gegen seinen Willen geht das aber nicht. Denn Moestafa K. hat, wie viele andere Asylsuchende, keine Reisedokumente mehr. Marokko muss ihn identifizieren, ehe er einreisen darf. Doch bei der Kooperation zwischen den Ländern hapert es.
«Europa? Da wollen wir alle hin!»
Keine Papiere, keine Spur. Fast keine. Nur sein Geburtsort: Charij, ein kleines Dörfchen im Süden Marokkos. In Polizeidokumenten sind die Namen seiner Eltern aufgeführt. Ahmed* und Rabia K.* Von ihnen fehlt im Dorf jede Spur – doch wie Moestafa K. gibt es viele junge Menschen, die wie er von Europa träumen.
In dieser Region ist die Landwirtschaft der wichtigste Arbeitgeber für die Menschen. Obwohl das Gebiet trocken wirkt, gibts keinen Wassermangel. Unter zerzausten Plastikplanen wachsen Tomaten, Kürbisse, Auberginen. Schafherden werden von Hirten von einem Tal ins nächste getrieben.
Zudem gibt es tausende Arganbäume – aus den Samen dieser Bäume wird ein teures Öl produziert, dass sich Europäer und Amerikaner gern in die Haare schmieren. Ein Liter Arganöl kostet in der Schweiz gut und gern 120 Franken.
«Niemand will hier bleiben»
In Charij soll Moestafa K. geboren sein. Hier hat er seine Kindheit verbracht, hier muss sein Traum von einem Leben in der Schweiz gewachsen sein. Ein Traum, den hier alle jungen Menschen träumen.
So wie Yassin (24). Haschischrauchend verbringt er seine freien Stunden damit, schweigend neben seinen Freunden an Hauswänden angelehnt den wenigen Autos nachzuschauen, die durch den Ort fahren. Er arbeitet auf dem Feld seines Vaters. «Europa? Da wollen wir alle hin. Es warten schöne Frauen, ein Job im Büro und viel viel Geld auf uns», sagt er zu BLICK. Kamal (28) pflichtet ihm bei: «Niemand will hier bleiben – was gibt es denn hier schon?»
«Jungs wie Moestafa K. gibt es hier viele!»
Glaubt man Mohammed (50), der aus der Gegend stammt und heute mit dem Lastwagen Waren durch Marokko transportiert, gäbe es eines aber sehr wohl: Arbeit. Und einen ordentlichen Generationenkonflikt.
Mit den Träumen der Jungen kann er nämlich nichts anfangen. «Jungs wie Moestafa K. gibt es viele», sagt er. «Hier wollen sie nicht arbeiten, weil ihnen auf Facebook oder im TV dauernd gezeigt wird, was für ein schönes Leben in Europa herrschen soll. Und dann sagen sie, hier gäbe es keine Arbeit. Das stimmt nicht!»
Von der Kehrseite der Medaille, von all den gescheiterten Träumen anderer Auswanderer, hören Yassin und seine Freunde nichts. Als sie von BLICK die Geschichte von Moestafa K. erfahren, der heute von 84 Franken pro Monat lebt und untergetaucht ist, glauben sie das zuerst nicht. Dass er in der Schweiz dem Alkohol verfallen ist und Menschen überfällt und verletzt, schockiert sie.
Der junge Houssam (20) ist aber überzeugt, dass das ein Erziehungsproblem sein muss. «Was bringt es, andere Menschen durch Diebstahl arm zu machen, nur, weil man selbst arm ist?» Bei ihm würde es nie soweit kommen, sagt er.
Die anderen jungen Männer pflichten ihm bei. An ihrem Traum vom Leben in Europa ändert sich nichts. «Wir werden es einfach besser machen», sagen sie. Hier bleiben sei nämlich keine Alternative. «Hier gibt es nichts für uns, hier wartet nichts auf uns!»
Die Mafia macht aus Träumen ein Business
Es sei die Mafia, vor allem die italienische, die den Jungen in Marokko verlockende Angebote macht, glaubt Mohammed. 20'000 Euro verlange diese für ein neues Leben in Europa, sagt er. Auch aus seiner Familie hätten sich einige auf den Pakt mit dem Teufel eingelassen. Ihre Reisedokumente müssen sie vernichten, damit sie ein Herkunftsland angeben können, das bessere Chancen auf Asyl bietet. Etwa Syrien.
Oder damit sie nicht einfach so ausgewiesen werden können. Wie der Fall von Moestafa K. im Kanton Schaffhausen beispielhaft zeigt. Für den jungen Schafhirten Kamal ist klar: Er will das Geld zusammenkratzen. Und hofft auf die Hilfe seiner Familie. Und seiner Nachbarn in Charij.
Vom Dorfältesten von Charij wird Kamal diese aber bestimmt nicht bekommen. Der wählt deutliche Worte, wenn er über die jungen Männer spricht. Er schimpft: ««Wer aus Marokko auswandert, tut das, weil er faul ist. Es sind Nichtsnutze, die sich die Hände nicht dreckig machen möchten!»
Dass Europa solchen Menschen kein Asyl gewährt, sei ganz wichtig, so der Berber. «Wer Freiheit will, muss hier bleiben und hier was verändern. Wenn alle vor unseren Problemen hier weglaufen, gibt es bald niemanden mehr, der sie lösen könnte!»
Dabei hätten sie dann bloss neue Probleme. Davon könnte Moestafa K. ein Lied singen. Er wollte den älteren Marokkanern damals offenbar nicht zuhören.
* Namen geändert