Vor einem Jahr stürzte die Morandi-Brücke ein
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Unglück in Genua (I):Vor einem Jahr stürzte die Morandi-Brücke ein

Die Hafenstadt gedenkt nach einem Jahr der 43 Opfer des Brücken-Dramas
Um Punkt 11.36 Uhr steht Genua still

Am Vormittag des 14. August 2018 kollabierte eine der meistbefahrenen Autobahnbrücken Genuas. In einer ergreifenden Feier will die Hafenstadt der Opfer der Katastrophe gedenken.
Publiziert: 13.08.2019 um 23:35 Uhr
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Aktualisiert: 14.08.2019 um 15:26 Uhr
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Sie war eine der meistbefahrenen Autobahnbrücken Genuas: Seit Eröffnung 1967 wurde der Ponte Morandi aber kaum saniert – mit katastrophalen Folgen. Am 14. August 2018 kollabiert ein Brückenteil und reisst 43 Menschen in den Tod.
Foto: AP
Myrte Müller

Am Mittwoch um 11.36 Uhr reisst Genua seine grösste Wunde auf. Vor einem Jahr, auf die Minute genau, bricht bei strömendem Regen ein 240 Meter langes Teilstück der Autobahnbrücke Ponte Morandi in sich zusammen. 43 Menschen stürzen in ihren Autos über 40 Meter in den Abgrund und sterben, 16 überleben schwer verletzt. 566 Genuesen werden obdachlos, da die Häuser unter der zerstörten Brücke unbewohnbar werden.

Um Punkt 11.36 Uhr hält Genua den Atem an

In einer ergreifenden Feier direkt am Todespfeiler Nummer 9 will die italienische Hafenstadt der Brückenopfer gedenken. Italiens Präsident Sergio Mattarella, Premier Giuseppe Conte sowie seine Vizes Matteo Salvini und Luigi di Maio reisen an. Erzbischof Angelo Bagnasco liest eine Messe. Angehörige der Toten, damalige Rettungs- und Bergungsmannschaften und Hunderte von ehemaligen Anwohnern stehen am Ufer des Polcevera Spalier.

Genua schweigt für eine Minute. Dann läuten alle Kirchen der Stadt, und jeder Dampfer im Hafen bläst ins Schiffshorn. 43 weisse Rosen werden an der Katastrophenstelle in die Fluss-Strömung gelegt. Eine für jede Seele, die der Ponte Morandi am 14. August 2018 mit sich riss. 

Ein Abschied von den Toten und ein Neuanfang

Die Unglücksbrücke steht nicht mehr. Und die Sonne wird scheinen, anders als am Katastrophentag. Die Zeremonie wird so nicht nur zum Abschied. Sie soll auch einen Neuanfang symbolisieren. Ende Juni wurden die letzten Brückenreste gesprengt und geräumt sowie der Grundstein für den neuen Ponte gelegt. Die Stahlbrücke ohne Tragkabel, entworfen vom genuesischen Stararchitekten Renzo Piano, soll bereits im kommenden April eingeweiht werden. Der Preis: 202 Millionen Euro. Während Genua in die Hände spuckt und das neue Projekt anpackt, gehen die Untersuchungen der Staatsanwaltschaft nur schleppend voran. 

Die genauen Unglücksursachen sind noch immer nicht bis ins Detail geklärt. Die 14 beauftragten internationalen Gutachter sind sich aber einig: Die über 55 Jahre alte Morandi-Brücke war altersschwach. Ihre Stahlseile waren durchgerostet, das Material, das sie umgab, brüchig. Das ergab beispielsweise das Gutachten des ETH-Professors Bernhard Elsener von der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt in Dübendorf . Auch die Tragstruktur der Brücke verfiel im Laufe der Jahrzehnte. Die italienische Justiz ermittelt gegen 74 Personen, meist Verantwortliche der Brücken-Betreiberin Autostrade und des Ministeriums für Infrastruktur. Der Vorwurf: Die Autobahnbrücke wurde nie richtig saniert. 

BLICK beantwortet ein Jahr danach die zehn wichtigsten Fragen zum Brücken-Drama von Genua.

Was genau passierte am 14. August 2018 in Genua?

Während eines heftigen Unwetters mit starkem Regen beginnt die Morandi-Brücke zu schwanken. Um 11.36 Uhr kollabiert der westliche der drei Pylone samt beiderseitiger Einhängeträger. Ein über 240 Meter langes Brückenstück kracht 42 Meter in die Tiefe. Videoaufnahmen zeigen, dass erst die südlichen Tragseile am eingestürzten Pfeiler 9 nachgeben. Zeugen erinnern sich an ein Rumpeln. Daraufhin stürzen die Fahrbahn-Einhängeträger auf beiden Seiten des Pylons ab, schliesslich reissen auch die nördlichen Tragseile, und der Pfeiler bricht in sich zusammen.

Wie lange dauerte der Kollaps?

Der Einsturz dauert 14 Sekunden. 35 PKW und drei LKW, die sich auf diesem Autobahnstück befinden oder nicht mehr rechtzeitig bremsen können, stürzen 42 Meter in den Abgrund. 43 Menschen sterben, 16 werden schwer verletzt.

Wer waren die Opfer?

Die meisten der Todesopfer und Verletzten waren Italiener. Dreizehn der Toten kamen aus dem Ausland, darunter waren vier Franzosen, drei Chilenen, zwei Albaner, zwei Rumänen, ein Kolumbianer und ein Peruaner. Mindestens zwei Menschen wurden in jenen Häusern verletzt, die von Brückenteilen getroffen wurden. Wie durch ein Wunder überlebt der italienische Profi-Fussballer Davide Capello, dessen Wagen über die Abrisskante in die Tiefe stürzte. Noch vier weitere Tage lang suchten Rettungskräfte nach Vermissten. 

Wen traf die Katastrophe noch?

Weil herabstürzende Brückenteile ganze Häuserreihen beschädigen und Einsturzgefahr herrscht, werden insgesamt 566 Anwohner evakuiert, ihre Häuser als unbewohnbar erklärt. Bis heute dürfen diese Menschen nicht zurück in ihre Wohnungen. Manche Häuser müssen gar abgerissen werden. 

Was geschah mit der Brücke nach dem Einsturz?

Nachdem die Suche nach Vermissten am 19. August 2018 eingestellt wird, sichert die Staatsanwaltschaft Trümmerteile und beauftragt 14 Experten für Gutachten zur Ursache des Brückenkollapses. Im Februar 2019 beginnt die Stadt mit dem Abbau der zerstörten Brücke. Ende Juni endlich werden auch die letzten Überreste weggesprengt. 

Was führte zum Kollaps der Morandi-Brücke?

Die Beweisführung ist noch nicht ganz abgeschlossen. Doch die Gutachter sind sich einig, dass die Brücke aus dem Jahre 1963 durch das Meeresklima und die enorme Last des fliessenden Verkehrs (alleine 1000 LKW in der Stunde) stark angegriffen war. So stellte beispielsweise der ETH-Professor Bernhard Elsener von der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt in Dübendorf ZH Rostschäden an den Stahlseilen fest. Zudem sei der Beton marode gewesen. Im Material wurde gar Sand und Jute entdeckt. 

Wer trägt die Verantwortung für das Unglück?

Die italienische Staatsanwaltschaft ermittelt gegen insgesamt 74 Personen. Gegen 21 Personen wurde Anklage wegen fahrlässiger Tötung und Missachtung von Sicherheitsbestimmungen erhoben. In erster Linie werden der Betreiber der Autobahnbrücke, Autostrade per l'Italia, die mit der Kontrolle und der Wartung der Brücke beauftragte Firma SPEA sowie Mitarbeiter des Verkehrsministeriums zur Verantwortung gezogen. Ihnen allen wird vorgeworfen, trotz besseren Wissens die Autobahnbrücke nicht rechtzeitig saniert zu haben.

Wie hoch ist der Schaden für Genua?

Der Schaden ist enorm. Allein die Kosten des Brückenabbruchs belaufen sich auf fast 20 Mio. Euro. Der Bau des neuen Viadukts kostet 202 Mio. Euro. Der Grundstückspreis im Stadtteil Certosa ist um 30 Prozent gefallen. Die Häuser an der Brücke sind fast nur noch die Hälfte wert. 2058 kleinere und mittlere Unternehmen litten und leiden noch heute an den Folgen der Katastrophe, denn die lokale Wirtschaft ist um 50 Prozent zurückgegangen. Die Handelskammer von Genua geht von 63 Mio. Euro direkten und von 359,1 Mio. Euro indirekten Schäden aus. 

Hat das Brücken-Drama auch Auswirkungen auf den Tourismus von Genua? 

Die Katastrophe führte zu Einbussen im Tourismusgeschäft von Genua und Savosa in Höhe von 117 Mio. Euro. Der Umsatz ging im vergangenen Jahr um 6,5 Prozent zurück. Es kamen fünf Prozent weniger Gäste. 

Wann wird die neue Autobahnbrücke gebaut?

In Sachen Aufbau will Genua Gas geben. Ende Juni wurde bereits der Grundstein des neuen Viadukts gelegt. Die mit dem Bau beauftragten Unternehmen wollen Ende Januar die Brücke bereits hochgezogen haben. Drei Monate später, also im April 2020, soll sie eingeweiht werden.

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