Schotterstrassen führen an Kartoffeläckern vorbei und um die kreuz und quer hingebauten Häuser herum. Die wenigen schön verputzten Einfamilienhäuser mit Gartenzaun stechen heraus. In der Luft der Geruch von Plastik. Jemand verbrennt seinen Hausmüll – im Kosovo kommt die Müllabfuhr manchmal, oft aber gar nicht.
Das Dörfchen Pestova liegt 30 Autominuten entfernt von Pristina, der Hauptstadt des Kosovo. Das Zentrum bilden zwei einander gegenüberliegende Tante-Emma-Läden.
«Wenn ich könnte, würde ich sofort von hier verschwinden», sagt Agim Osmani (55), Geschäftsführer in einem der beiden Shops. Viele aus dem Dorf haben sich bereits aufgemacht in den Westen. In der Hoffnung auf ein besseres Leben.
Für die Daheimgebliebenen gibt es nicht viel zu tun in diesem Land. Kosovo ist bankrott. 45 Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos.
Der Ladenbesitzer kommt gerade so über die Runden. Er holt ein Milchbüchlein hervor. Darin eingetragen die Namen seiner Kunden und was sie bezahlt haben – und was nicht. «Einige sind jetzt im Westen, dabei haben sie bei mir noch eine Rechnung offen», sagt er wütend. Ein Jakup V. zum Beispiel liess 44 Euro anschreiben.
«Sobald ein Kosovare eine Reisetasche dabei hat, wird er gefragt, wohin er denn fliehen wolle», sagt Osmani und zieht eine Augenbraue hoch. Für die etwa 50 000 Kosovaren, die den 1,8-Millionen-Zwergenstaat seit November verlassen haben, ist das kein Witz, sondern bitterer Ernst.
Die meisten sind nach Deutschland und Österreich aufgebrochen, einige weiter Richtung Schweiz. Mit Hilfe von Schmugglern versuchten sie, die Grenze zu Ungarn zu passieren. In der Schweiz wird ihr Asylgesuch innert 48 Stunden abgewiesen. Einige tauchen einfach in die Illegalität ab.
Am Bill Clinton Boulevard in Pristina sitzen die Leute in den Cafés an der Sonne. Der schaumige Milchkaffee heisst hier Macchiato und schmeckt so gut wie in Italien. Zu Ehren des ehemaligen US-Präsidenten wurde auch eine Statue errichtet. Clinton hatte dem Kosovo im Kampf gegen die Serben geholfen. Ein Laden trägt den Namen Hillary.
In der Innenstadt ein irritierend gewohnter Anblick: Ausrangierte Schweizer Postautos fahren auf den Strassen. Im Januar demonstrierten hier frustrierte Bürger, sie haben genug von den Regierungsparteien. Günstlingswirtschaft und Korruption liessen das Land ausbluten.
Hashim Thaci, der einflussreiche Aussenminister und erster Ministerpräsident des jüngsten Staates Europas, sieht die Schuldigen für den Massenexodus nicht in den eigenen Reihen. «Falsche Gerüchte der Menschenschmuggler» verführten das Volk, wonach Europa seine Tore öffne.
Ein Hotel in einem Aussenbezirk von Pristina: «Wenn ich könnte, würde ich sofort von hier verschwinden.» Der Kellner in der Stadt sagt dasselbe wie der Ladenbesitzer auf dem Land. Fünfzig Gedecke im grossen, leeren Speisesaal sind liebevoll arrangiert – und unberührt. Der 26-Jährige steht vor einem prunkvollen Familiengemälde. Er überwacht jede Bewegung der zwei einzigen Hotelgäste. Er bedient, sie sitzen an den Tischen.
Er fragt, welche Länder sie schon besucht hätten. Studiert hat er Soziologie. Für 200 Euro Lohn muss er als Kellner 216 Stunden arbeiten pro Monat.
Die Gäste aus dem Westen bezahlen in Euro, es ist auch die Währung Kosovos. Trotzdem ist es nicht dasselbe Geld. Die Gäste haben das richtige Geld, damit kann man sich etwas kaufen, in Turin zum Beispiel, wo der Kellner gerne hin möchte, um ein Fussballspiel seiner Lieblingsmanschaft zu sehen.
Er fühle sich wie ein Gefangener im eigenen Land, ein verhinderter EU-Bürger. Kosovaren können sich nicht ohne Visum im Schengen-Raum bewegen, als Einzige im westlichen Balkan. Sogar die Moldawier dürfen ohne Visum reisen, was die Kosovaren ärgert.
800 000 Kosovaren leben im Ausland, fast ein Drittel der Bevölkerung. Die meisten in Deutschland und in der Schweiz. 500 Millionen Euro schicken sie jedes Jahr nach Hause. 30 Prozent der Investitionen werden von der Diaspora finanziert. «Jeder kennt jemanden im Ausland, der Geld schickt oder zumindest im Notfall aushelfen könnte», sagt Nita Luci (38), Soziologin und Anthropologieprofessorin an der Universität Pristina.
Den Sommer nennen die Kosovaren die «Schatzi-Zeit». Es ist die Saison, in der die Auswanderer einfahren, mit EU- und CH-Nummernschildern an den Autos. Es ist ein wirtschaftlicher Durchlauferhitzer. Die Heimatbesucher lassen in ihren Ferien viel Geld liegen in den Restaurants, den Clubs, den Geschäften.
Die Einheimischen beschleichen gemischte Gefühle: «Sie geben an mit ihren dicken Autos, trinken am Tag schon Wodka Red Bull. Aber auf der anderen Seite tun sie viel für unser Land», sagt ein Taxifahrer.
Ein Paradox: Eigentlich misstraue man Reichen im früheren Teil des sozialistischen Jugoslawiens. «Immer steht die Frage im Raum: Wie haben sie das Geld verdient?», sagt Soziologin Luci. Gleichzeitig hängt das Land am Tropf der Diaspora.
Die Begehrlichkeiten, welche die Ausland-Kosovaren in der Heimat wecken, sind der stärkste Motor der Auswanderungswilligen. Sie haben keine Lust mehr, daheim weiterzumachen.
Es seien vor allem die Mittelständler, die weggingen, sagt Nita Luci. Im Unterschied zu den vielen Arbeitslosen hätten sie zwar einen Lohn, das Auskommen sei aber viel zu knapp. Ein Polizeibeamter, der 600 Euro verdiene: Was halte ihn hier zurück?
Auch Studenten verlassen das Land, in den Taschen ein iPhone 5, das sie von Verwandten aus Deutschland erhalten haben. «Die ganz Armen aber haben oft nicht einmal die 500 Euro für die Flucht übrig», weiss Luci. «Gleichzeitig verdienen in diesem Land Berufe wie Polizist, Arzt oder Staatsangestellter die Bezeichnung Mittelstand eigentlich gar nicht, weil ihre Löhne viel zu tief sind.»
Im Kosovo etwas aufzubauen, bedeutete bis anhin für viele ökonomischen Selbstmord. Banken nehmen Zinsen von zwölf Prozent. Regierung und Wirtschaftsvertreter wollen nun das Land für die Diaspora attraktiver machen. «Es braucht mehr Sicherheiten und günstigere Kredite», sagt Safet Gerxhaliu (51), Präsident der Handelskammer.
Der Plan ist nicht aus der Luft gegriffen: Die Kosovo-Albaner im Ausland hingen stark an ihrem Heimatland, sagt Nita Luci: «Oft leben sie konservativere Werte als ihre Verwandten im Kosovo», so die Soziologin. «Sie gingen einst ins Ausland und träumten von einem besseren Leben. Sie romantisieren und verklären, was sie zurückgelassen haben. Sie möchten ihre Kultur am Leben erhalten, wenn sie im Sommer in den Kosovo kommen – oft auch, um jemanden zum Heiraten zu finden.»
Agim Osmani in seinem Laden hofft, dass sein Sohn dereinst ins Ausland geht: «Es wäre schön, wenn er in die Schweiz könnte. Er ist 28. Er hat noch nie gearbeitet, er studiert Medizin. Doch es ist fast hoffnungslos, hier eine Stelle zu finden.»