Auf dem Marktplatz von Peterborough scheint die Welt in Ordnung. An der Stadthalle hängt das Porträt der Queen, lächelnd blickt Elizabeth II. zur prächtigen Kathedrale gegenüber.
Über den Platz fährt ein grimmiger Mann im Elektro-Rollstuhl. Am Heck ein dicker «Auspuff», vorne viele Zombiefratzen und Totenköpfe – und ein Pin, der für den Brexit wirbt: «Vote leave».
Herbie Venters (72) fühlt sich als einfacher Arbeiter ausgeschlossen, vergessen: «Ein Leben lang habe ich ins System eingezahlt. Nun komme ich kaum durch. Immigranten bekommen einfach so Sozialhilfe!» Der einstige Labour-Anhänger wählt UKIP und ist für den Brexit: «Ich bin raus.»
So denkt eine Mehrheit hier in der Arbeiterstadt der Grafschaft Cambridgeshire. Fast nirgends im Königreich ist die Abneigung gegen die EU grösser. Für die Menschen hier bedeutet die EU nicht Frieden und Freiheit, sondern Masseneinwanderung, überlastete Spitäler und überfüllte Schulen in ihrer Stadt, die sie nicht wiedererkennen.
Venters fährt täglich mit seinem Kumpel Andy Garghan (61) am Marktplatz auf: zwei stadtbekannte Originale. Garghan, ein ehemaliger Maschinist mit gewaltigem Bauch, schüttelt den Kopf. Die Stadt sei enorm gewachsen, aber leider nicht zum Besseren.
«Das System ist im Eimer, es kommen einfach zu schnell zu viele Einwanderer.»
Man müsse einen Riegel schieben: «Raus aus der EU.» In zehn Jahren stieg die Einwohnerzahl von Peterborough um 33'000 auf rund 200'000. Tausende Osteuropäer zogen dank der Personenfreizügigkeit hierher, wo es billigen Wohnraum gab und viel Arbeit.
Gemüsekammer Grossbritanniens
Die Region ist die Gemüsekammer Grossbritanniens. Auf den Feldern ernten Osteuropäer Kartoffeln, Zuckerrüben, Früchte. Briten verdingen sich kaum für die schlecht bezahlte Schufterei.
Die Sorge um die Masseneinwanderung bestimmt die Brexit-Debatte. Allein im vergangenen Jahr wanderten 300'000 Menschen ein, der Grossteil aus der EU. In ein Land, dessen öffentliche Dienste seit Jahren unter dem Sparkurs der Regierung ächzen.
Die desillusionierte Arbeiterklasse weiss: Ihr Leben war mal besser. Der einzige Weg, etwas zu ändern, ist für sie der Brexit. Der Fokus auf die negativen Seiten der Einwanderung verhalf den Rechtspopulisten dazu, dass «in» und «out» in den Umfragen fast gleichauf liegen. Es wird sehr eng bei der Abstimmung am kommenden Donnerstag.
«Wir werden gewinnen»
Auf dem Marktplatz winkt Stewart Jackson Passanten zu. «Wir werden gewinnen», ruft der 51-jährige Parlamentarier der Konservativen. Er ist der prominenteste Brexit-Befürworter aus Peterborough. «Diese Stadt ist ein Paradebeispiel dafür, was die Personenfreizügigkeit anrichten kann», sagt er. «Wir haben genug.»
Zwar hat die Stadt eine Arbeitslosenrate von bloss zwei Prozent. Doch für Jackson kommen die falschen Leute: jene mit geringer Bildung, die für wenig Geld arbeiten. «Davon profitieren nur die grossen Konzerne, aber nicht die einfachen Menschen.» Er zählt auf, was viele immer wieder erwähnen: dass die Quartiere verlottern, die Kriminalitätsrate steigt. Einige Stadtteile nennt er Slums.
Wie das Quartier Millfield nördlich des Zentrums. An der Lincoln Road drängen sich Geschäfte mit ungewohnten Namen: Restaurant Riga, Baltic Mini Mart, Eurofood. Eine multikulturelle Strasse, wie sie in vielen Städten Grossbritanniens längst Normalität ist.
Doch für die Menschen in Peterborough verändert sich die Stadt zu schnell. Dabei war das Quartier früher heruntergekommen, die Läden waren mit Brettern vernagelt. Jetzt brummt das Geschäft. Probleme gibt es wegen überbelegten Häusern, Lärm und schleppender Integration.
«Hätte die Stadt genug Geld, um die öffentlichen Dienste auszubauen, könnte man das beheben», sagt Matthew Mahabadi (27). Der Labour-Politiker leitet vor Ort die Kampagne zum Verbleib in der EU. «Es ist hier sehr schwierig für uns», gesteht er. Kaum jemand will ihm zuhören.
Mahabadi ist wütend und enttäuscht. «Die Debatte erinnert mich an Deutschland in den 30er-Jahren. Wir haben eine Wirtschaftskrise und ein Sparprogramm, das die Ärmsten am härtesten trifft. Die Arbeiterklasse hat keine Hoffnung mehr auf ein besseres Leben. Doch man gibt den Einwanderern die Schuld an allem!»
Hoffen lassen ihn nur die Buchmacher: Sie setzen wie er auf einen Verbleib in der EU.