Wenn die erste Sitzung des deutschen Parlaments nach der Sommerpause ein Stimmungsbarometer war, dann steht die Bundesrepublik vor spannungsreichen Zeiten.
Ungewöhnlich scharf hatte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble Rassismus, Ausländerhass und Nazisymbole verurteilt, mit denen Rechte und Extremisten auf den Tod zweier Männer in Chemnitz und Köthen reagiert hatten: «Das Gewaltmonopol des Staates und die Durchsetzung des Rechts sind nicht relativierbar.»
Schäuble hatte Politik und Gesellschaft insgesamt zur Ordnung rufen wollen. Doch seine Rede verpuffte – wie so viele andere Warnungen – im politischen Nirvana.
«National! Sozialistisch! Jetzt!», hatten die Neonazis in Chemnitz gebrüllt. «Ihr werdet brennen, brennen, brennen», waren Journalisten in Köthen bedroht worden. In Hessen hatte die AfD von der Erstürmung und Säuberung der öffentlich-rechtlichen Sender schwadroniert.
Mittendrin auch Vertreter des radikalen AfD-Flügels, die den Schulterschluss mit dem Mob vorantreiben. Auch bei dem für den 9. November geplanten rechten Sternmarsch auf Berlin wollen sie dabei sein. An dem Tag vor 29 Jahren fiel die Mauer.
Angriff auf die Demokratie
Inzwischen zielen die Rechten auf das Herz der Demokratie. Und es sieht so aus, als hätte ihre Strategie selbst bei wichtigen Funktionsträgern der Institutionen erste Erfolge.
Seit Innenminister Horst Seehofer die Berliner Regierung im Juli mit seiner Flüchtlingspolitik fast gesprengt hätte, wagen sich die Kritiker von Kanzlerin Angela Merkel aus der Deckung. Mit ihren gezielten und vom Innenminister tolerierten Provokationen nehmen sie die nächste Krise billigend in Kauf.
Hans-Georg Maassen zum Beispiel ist unglaubwürdig, wenn er behauptet, die Reaktionen auf sein Interview mit der «Bild»-Zeitung über die Ereignisse in Chemnitz weder geahnt noch gewollt zu haben.
Anstatt neonazistischen Umtrieben und marodierenden Ausländerfeinden klar den Kampf anzusagen, hatte sich der Chef des Inlandsdienstes in semantischen Spitzfindigkeiten verloren. Klare Worte wie «Hetzjagd» hielt er für unangemessen. Da sei die Kanzlerin Merkel wohl der «Fake News»-Propaganda von links aufgesessen. Ein Blick in das Polizeiprotokoll aus den Chemnitzer Nächten hätte Maassen vor solchem Unfug bewahrt.
Er kämpft um Amt und Leumund
So aber jubeln jetzt Deutschlands Rechtspopulisten nicht nur über unerwarteten Beistand. Zufrieden beobachten sie, wie Maassen wie ein Ertrinkender um sein Amt und seinen demokratischen Leumund kämpft. Dass er sich dabei ungeschickt anstellt – auch daran hat wieder die AfD ihren Anteil.
Zuerst wollte Maassen von «Bild» falsch verstanden worden sein. Aber als Seehofer ihm überraschend sein Vertrauen aussprach, ruderte der Geheimdienstler schnell vom Zurückrudern zurück: «Ich würde das Interview heute genauso geben.»
Dann wurden auch noch Kontakte des Verfassungsschützers zu Vertretern der AfD bekannt. Alles normal, sagen sogar Maassens Kritiker. Bis darauf, dass er mit dem AfD-Abgeordneten Stephan Brandner über den streng geheimen Haushalt des Verfassungsschutzes gesprochen haben soll. Brandner hat seine eigene Behauptung inzwischen widerrufen. Aber die AfD-Saat neuer Zweifel an der Loyalität Maassens und seiner Glaubwürdigkeit ist bereits aufgegangen.
Am Dienstag soll in Berlin ein Koalitionsgipfel über die Zukunft des Spitzenbeamten entscheiden. Dann ist – wieder einmal – Horst Seehofer das Zünglein an der Koalitionswaage. Gute Optionen hat er dann nicht.
Zwar hat der Innenminister die AfD zum Wochenende und zum ersten Mal so klar als Feind der demokratischen Ordnung benannt. Doch sollte er am Dienstag die Entlassung des Verfassungsschützers Maassen verhindern, könnten die Sozialdemokraten aus der Regierung aussteigen. Schasst er den Verfassungsschützer, wäre der Minister in Erklärungsnot.
Dann könnten AfD und Neonazis einen neuen Märtyrer des angeblichen Unrechtsstaats feiern.