Nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen starten Union und SPD einen neuen Anlauf zu einer Regierungsbildung. Die SPD machte am Donnerstag auf einem Parteitag in Berlin nach stundenlanger kontroverser Debatte mit grosser Mehrheit den Weg für «ergebnisoffene Gespräche» frei, die nächste Woche beginnen sollen.
Drei Ergebnisse sind möglich: Neuauflage der grossen Koalition, Tolerierung einer Minderheitsregierung und Neuwahlen. «Es gibt keinen Automatismus für irgendetwas», versprach Parteichef Martin Schulz.
Die SPD schickt Schulz mit einem mässigen Ergebnis bei der Wiederwahl als Parteichef in die Gespräche mit der Union. Der 61-Jährige erhielt mässige 81,9 Prozent der Stimmen. Im März hatte er noch 100 Prozent bekommen, dann aber die Bundestagswahl mit dem historisch schlechten Ergebnis von 20,5 Prozent verloren.
Zu seiner Wiederwahl sagte Schulz: «Ich wünsche mir, dass auf der Grundlage dieses Ergebnisses bessere Zeiten kommen.» Bei 43 Wahlen der SPD-Vorsitzenden seit 1946 gab es nur fünf Mal schlechtere Ergebnisse.
Die Union begrüsste die Entscheidung der SPD für Gespräche. «Es werden harte Verhandlungen, aber klar ist: Deutschland braucht eine stabile Regierung», betonte CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer. Der CDU-Vorstand will Sonntag und Montag über das weitere Vorgehen beraten, erklärte Bundesgeschäftsführer Klaus Schüler. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sagte, die SPD habe einen ersten Schritt aus der «Schmollecke» gemacht.
Schulz hatte vor der Abstimmung eindringlich für Gespräche mit der Union geworben. «Wir müssen nicht um jeden Preis regieren. Aber wir dürfen auch nicht um jeden Preis nicht regieren wollen», sagte er in seiner mehr als einstündigen Rede.
In der anschliessenden Debatte schlug ihm aber massiver Widerstand gegen eine grosse Koalition entgegen. Kurz vor der Abstimmung am Abend ergriff Schulz noch einmal das Wort und sagte: «Ich bitte um Euer Vertrauen und sonst überhaupt nichts.» Schulz hatte die grosse Koalition auch nach dem Scheitern von Jamaika zunächst ausgeschlossen, dann aber eine Kehrtwende vollzogen.
Vor allem die Jungsozialisten machten Front gegen die Linie des Vorstands. Sie halten ein Regierungsbündnis mit der Union für «politischen Selbstmord» und warnen vor einer «Verzwergung» der SPD. «Wir haben ein Interesse daran, dass hier noch was übrig bleibt von diesem Laden, verdammt nochmal», sagte Juso-Chef Kevin Kühnert.
«Die Erneuerung der SPD wird ausserhalb der Koalition sein, oder sie wird nicht sein.» Ein Antrag der Jusos für den Ausschluss einer grossen Koalition wurde von den Delegierten aber abgeschmettert.
In seiner Rede übernahm Schulz als gescheiterter Kanzlerkandidat die Verantwortung für das mit 20,5 Prozent schlechteste Ergebnis der SPD bei einer Bundestagswahl und entschuldigte sich für seinen Anteil daran.
Er habe privat und politisch schon so manches Auf und Ab hinter sich. «Aber so ein Jahr kann man nicht einfach abschütteln. So ein Jahr steckt in den Knochen.» Er wisse, wie enttäuscht und wütend viele Menschen seien. «Ich kann die Uhr nicht zurückdrehen, aber ich möchte als Parteivorsitzender meinen Beitrag dazu leisten, dass wir es besser machen.» Für seine Rede erhielt Schulz nur mässigen Applaus.
Auch Fraktionschefin Andrea Nahles rief die Delegierten dazu auf, keine Angst vor der grossen Koalition zu haben. Die SPD müsse mit «inhaltlicher Überzeugung und Selbstbewusstsein» in die Gespräche gehen und diese dann hart führen.
Bereits in der kommenden Woche will Schulz nun mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und CSU-Chef Horst Seehofer sprechen. Am 15. Dezember soll der SPD-Vorstand entscheiden, ob die Partei Sondierungsgespräche mit der Union aufnimmt, die dann Anfang Januar beginnen würden. Über die Aufnahme von formellen Koalitionsverhandlungen würde dann ein Sonderparteitag abstimmen.
Das letzte Wort haben aber die Mitglieder. Ein Koalitionsvertrag würde ihnen zur Abstimmung vorgelegt werden.
Die SPD-Spitze geht mit mehreren roten Linien in die Gespräche mit der Union. Unter anderem fordert sie die Verschmelzung von gesetzlicher und privater Krankenversicherung zu einer Bürgerversicherung und ein Ende der Aussetzung des Familiennachzugs für Flüchtlinge.